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       # taz.de -- Träger des taz Panterpreis: Bewegung und Revolte
       
       > Migration kann kein Verbrechen sein, sagen die Aktivisten des des
       > Netzwerks Welcome2Europe, das Papierlosen auf dem Weg nach Europa hilft
       
   IMG Bild: Aus dem Kampf für die Schließung des Internierungslagers Pagani auf Lesvos ging 2009 das Netzwerk Welcome to Europe hervor
       
       Der junge Mann aus Mazar-i-Scharif ist verzweifelt. „Mein Leben hier
       besteht aus Schrecken und Angst“, steht in seiner in blumigem Englisch
       verfassten E-Mail. Seine Familie werde von den Islamisten bedroht: Sie
       solle ihren Sohn – also ihn – mit den Taliban in den Kampf gegen die
       amerikanischen Besatzer und die Karzai-Regierung schicken.
       
       „Mein Bruder wurde schon getötet. Aber ich will niemanden töten und ich
       will auch nicht von den Taliban ermordet werden.“ Aus Angst halte er sich
       nun versteckt. Für ihn gebe es nur eine Lösung: „Ich muss dieses Land
       verlassen.“ Doch da liege das nächste Problem: „Ich weiß nicht, wohin und
       ich weiß nicht, was ich dafür tun muss.“ Ein Freund, der Afghanistan
       bereits verlassen habe, „hat mir von Ihrer Organisation und Ihrer Arbeit
       erzählt“. Nun bitte er „tief und aufrichtig“ um Hilfe. Der junge Mann hatte
       große Hoffnung in das Schreiben gesetzt. Schließlich hieß das Netzwerk, auf
       das seine Freunde ihn aufmerksam gemacht hatten, „Welcome to Europe“ – kurz
       W2EU.
       
       Frankfurt, Dezember 2010: Das gerade ein Jahr alte W2EUNetzwerk ist
       eingeladen, sich auf einer Konferenz in der Frankfurter Universität
       vorzustellen. Die Aktivisten von W2EU nutzen die knappe Zeit nicht, um von
       der europäischen Asylpolitk, von Lampedusa oder von Frontex zu erzählen.
       Sie projizieren Bilder der geflohenen afroamerikanischen Sklavin Harriet
       Tubman an die Wand und erzählen die Geschichte der Underground Railroad.
       Die Underground Railroad war ein Netz geheimer Routen, Schutzhäuser,
       unzähliger FluchthelferInnen mit einem dichten Kommunikationsnetz im Süden
       der USA – lange vor Erfindung des Telefons. Gegner der Sklaverei, Weiße und
       Schwarze, Südstaatler und Nordstaatler hatten es gemeinsam aufgebaut.
       Zwischen 1810 und 1850 sollen etwa 100 000 Sklaven die Underground Railroad
       zur Flucht genutzt haben.
       
       Eine der bekanntesten und erfolgreichsten „Conductors“ (Schaffner) der
       Underground Railroad war Harriet Tubman. Im Alter von 29 Jahren floh sie
       selbst aus der Sklaverei, danach kehrte sie viele Male zurück, um anderen
       bei der Flucht zu helfen. Doch ohne die Hilfe weißer Quäker aus den
       Nordstaaten wäre ihr dies niemals möglich gewesen. „Es war mehr ein
       informelles militantes Netzwerk, als eine Organisation im engeren Sinne“,
       sagt W2EU-Aktivistin Aida Ibrahim. Das will W2EU auch sein.
       
       ## Das alternative „Welcome Center“
       
       Mitilini, August 2009: Der kleine Hafen der Hauptstadt der griechischen
       Insel Lesbos sieht aus, als hätte der nationale Fremdenverkehrsverband ihn
       entwerfen lassen. Weissgetünchte Cafés und Fischrestaurants reihen sich um
       die hufeisenförmige Promenade, das Meer ist blau und so klar, dass man
       Fische darin sehen kann. An der Seite ragt eine imposante Kathedrale
       hervor, über allem thront ein kleiner Berg mit einer bestens erhaltenen
       römischen Festung.
       
       Von früh bis spät bevölkern Einheimische und Touristen die Flaniermeile.
       Selbst das tagsüber am Kai liegende, graue Schiff der EU-Grenzschutzagentur
       Frontex vermag die Urlaubsatmosphäre kaum zu trüben. Nur eine kleine
       Grünfläche am Ende der Promenade, direkt neben dem Präfekturgebäude, ist
       nicht für die Flaneure vorgesehen. Hier steht seit dem Wochenende ein
       kleines, gelb-rotes Zirkuszelt. Draußen hängen Transparente gegen Frontex,
       drinnen sitzen somalische Familien mit ihren Tüten und Reisetaschen und
       erholen sich von den Strapazen der vergangenen Nacht, in der sie als
       Flüchtlinge mit vollbesetzten kleinen Booten aus der Türkei übergesetzt
       waren.
       
       Hunderte von ihnen kommen in diesen Nächten auf Lesbos an. Sie stammen aus
       Eritrea, Somalia, Äthiopien, Afghanistan, Iran oder dem Irak. Bis zu 500
       Euro bezahlen sie für die Passage, und wer auf Lesbos von der Polizei
       aufgegriffen wird, der landet normalerweise im völlig überfüllten
       Internierungslager Pagani, ein zum Migrantengefängnis umfunktioniertes
       ehemaliges Warenlager in einem Vorort von Mitilini, das der Staat „Welcome
       Center“ nennt.
       
       Doch jetzt ist das anders. Hunderte AktivistInnen aus ganz Europa sind zu
       einem Protestcamp nach Lesbos gekommen. Sie wollen dagegen protestieren,
       dass „Frontex auf dem Meer Jagd auf die Flüchtlinge macht und sie in
       Richtung Türkei zurücktreibt“, sagt Anne Morell aus Köln. In Deutschland
       ist sie beim „Kein Mensch ist illegal“-Netzwerk aktiv. Hier versucht sie
       als Sprecherin des Camps Journalisten zu erklären, was man am Vorgehen
       gegen die Bootsflüchtlinge auszusetzen hat. Und warum es eine
       Menschenrechtsverletzung ist, dass die griechische Polizei jene Migranten,
       die Frontex nicht aufgebracht hat, in Pagani einsperrt „obwohl sie
       überhaupt kein Verbrechen begangen haben“.
       
       Tatsächlich kommen viele Anfragen von der Presse: Nach der ersten
       Demonstration der Frontex-Gegner vor dem Lager haben die über 800
       Gefangenen eine Revolte gestartet und sind in einen Hungerstreik getreten.
       Das Zirkuszelt im Hafen haben die Aktivisten gemeinsam mit griechischen
       Hausbesetzern aufgebaut. Es soll „unser Welcome Center sein“, sagen sie.
       Seit Tagen beäugt sie rund um die Uhr eine im nahen Schatten stehende
       Polizeieinheit in voller Montur. Sie fürchtet, die Camper könnten
       versuchen, das Präfekturgebäude zu besetzen. Die Flüchtlinge, die
       normalerweise verhaftet werden, lassen die Polizisten unbehelligt. Sie
       bekommen im Zelt Essen, Wasser und Kleiderspenden. Es ist heiß, die
       Erwachsenen dösen, die Kinder spielen. Immer, wenn es im Zelt zu voll wird,
       wird eine Gruppe in das Camp der AktivistInnen ausquartiert.
       
       „Nach und nach wurde uns klar, was für die Leute das wichtigste war:
       Informationen“, sagt Marion Bayer, eine deutsche Aktivistin von W2EU. Denn
       viele wissen nicht einmal, wo sie sind. Oft ist ihnen unbekannt, dass sie
       sich auf einer Insel befinden, von der es keinen Landweg „nach Europa“
       gibt. Nicht alle wissen, dass sie offiziell eine Registrierungskarte von
       der Polizei brauchen, um an Bord der Fähren nach Athen gelassen zu werden.
       Manchen ist auch nicht bewusst, dass es diese Registrierungskarte
       normalerweise nur dann gibt, wenn man vorher wochenlang in der
       „Administrativhaft“ von Pagani gesessen hat. Oder dass ihnen dort die
       Fingerabdrücke abgenommen und in die EU-Biometriedatenbank EURODAC
       eingespeist werden.
       
       Kaum einer hat davon gehört, dass es eine europäische Richtlinie namens
       Dublin II gibt, wegen der sie nach dieser biometrischen Registrierung in
       kein anderes europäisches Land mehr reisen dürfen – es sei denn, sie werden
       als Flüchtlinge anerkannt. Doch dieses Glück haben nur wenige: 2008 hat
       Griechenland nur 0,04 Prozent aller gestellten Asylanträge positiv
       beschieden.
       
       Menschen aus Ländern wie Afghanistan, Iran, Irak, Somalia oder Eritrea
       haben unter Umständen in Zentral- und Nordeuropa Aussicht auf sogenannten
       »subsidiären« Schutz, eine Art humanitäres, befristetes Bleiberecht. Doch
       nur wer weiß, wie man sich auf dem Weg dahin verhalten muss, kann dies auch
       in Anspruch nehmen. Je mehr die AktivistInnen im Zirkuszelt mit den
       Ankömmlingen sprechen, desto eindeutiger ist für sie: Mit rechtlicher
       Aufklärung, und sei sie noch so kursorisch, können sie ihnen am besten
       helfen. „Wir haben versucht aufzuklären, aber zugleich nicht zu
       verschweigen, dass die Leute noch einen langen und schwierigen Weg vor sich
       haben“, sagt Bayer. Unter den Frontex-Gegnern sind Anwälte aus Deutschland
       und Griechenland. „Wir haben damals in aller Eile Flugblätter
       zusammengeschustert“, sagt Bayer. Die knappe Fibel übersetzen sie auf
       Englisch, Französisch, Farsi und Arabisch und vervielfältigen sie im
       örtlichen Copyshop. Die Überschrift: „Welcome to Europe.“
       
       ## Vernetzung im Netz
       
       Hamburg, Dezember 2009: Nach der Veröffentlichung eines Enthüllungsvideos
       aus Pagani und dem von außen unterstützten Hungerstreik der Insassen waren
       die internationalen Proteste so stark geworden, dass die griechische
       Regierung das Internierungslager auf Lesbos im Oktober 2009 geschlossen
       hatte. Einige der Migranten, die während des Camps im Zirkuszelt angekommen
       waren, haben es auf meist verschlungenen Wegen weiter nach Norden geschafft
       und sich bei den deutschen Aktivisten, die sie auf Lesbos kennen gelernt
       hatten, über Facebook, E-Mail oder Telefon gemeldet. „Nach dieser Erfahrung
       dachten wir: Da steckt politisch noch viel mehr drin“, sagt Aida Ibrahim.
       „Wir mussten dran bleiben und etwas daraus machen.“
       
       Die Frage war nur, wie. Um darüber zu debattieren, treffen sich rund
       fünfzig der Aktivisten aus dem alternativen Welcome Centers jetztim
       Hamburger Stadtteilzentrum Kölibri in St. Pauli. Allen ist noch
       gegenwärtig, welche politische Dynamik an den EU-Außengrenzen herrscht –
       und wie nützlich ihre hastig produzierten Flugblätter dort waren. Unter
       ihnen sind Flüchtlinge und Studierende, aber auch Rechtsanwälte,
       Hochschullehrer, Bundestagsmitarbeiter, Migrationsforscher und Mitarbeiter
       von Flüchtlingsräten. Viele waren seit Jahren in verschiedenen
       antirassistischen Initiativen aktiv. Einer von ihnen war Hagen Kopp aus
       Hanau. Er gründete in den neunziger Jahren das „Kein Mensch ist
       illegal“-Netzwerk mit und hatte auch das Camp auf Lesbos mit vorbereitet.
       
       Die Debatte läuft auf eine Doppelstrategie hinaus. „Wir wollten an den
       Hotspots des Grenzregimes die kritische Öffentlichkeit stärken“, sagt Kopp.
       Doch das reichte ihnen nicht. Die Erfolge von Lesbos seien durch die
       „Parallelität von öffentlicher Kampagne und direkter Unterstützung“
       zustandegekommen. „An dieser Kombination wollten wir festhalten.“ Und so
       wurde beschlossen, dass eine „Unterstützungsstruktur für MigrantInnen, die
       auf dem Weg sind“, die künftigen Kampagnen gegen Dublin II und Frontex
       ergänzen solle.
       
       Wie sich in Mitilini gezeigt hatte, bestand die wertvollste Unterstützung
       für die Flüchtlinge darin, ihnen aufbereitete Rechtsinfos zu geben und
       Anlaufstellen in Europa bekannt zu machen. Die Aktivisten beschließen, ein
       Infoportal im Internet aufzubauen. Anfang 2010 geht die Homepage
       [1][w2eu.info] online. Zu fast 25 Ländern finden sich dort mittlerweile
       Infos, fast alle EU-Staaten sind darunter, außerdem die Transitländer
       Marokko, Türkei und Ukraine. Alle Informationen gibt es auf Englisch,
       Französisch, Farsi und Arabisch, übersetzt von Freiwilligen.
       Partnerorganisationen in ganz Europa steuern die Infos bei und verzahnen
       gleichzeitig ihre Arbeit. Vergleichbares gab es zuvor maximal auf
       regionaler Ebene. „Wir konnten dabei auf Verbindungen zurückgreifen, die
       sich in 15 Jahren der Vernetzung gebildet haben“, sagt Kopp. Vom
       ukrainischen Uzhgorod bis zum marokkanischen Oujda habe man so das
       „informelle militante Netzwerk“ knüpfen können.
       
       Doch dies sei nur wenig Wert, ohne die Mitarbeit der migrantischen
       Communities. „Das geht in zwei Richtungen“, so Kopp. Mit Flüchtlingen, vor
       allem aus Eritrea und Afghanistan, die in Europa unterwegs seien, gebe es
       beständige Kontakte und Austausch. Ihre Erfahrungen, vor allem mit Dublin
       II, flössen stetig in das Infoportal ein. „Das trägt einen weiteren
       Transnationalisierungsaspekt in sich“, sagt Kopp. So gleiche W2EU keiner
       NGO, sondern versuche, „assoziativ“ Basisbewegungen zusammenzubringen. Das
       Ergebnis ist, dass man auf der Homepage nicht nur erfahren kann, wo es in
       Rom Essen und Kleidung gibt, ohne dass jemand Geld oder einen Ausweis sehen
       will. Oder welche Anwälte in München papierlosen Flüchtlingen
       Rechtsbeistand leisten. Auch, wenn etwa die Niederlande Abschiebungen nach
       Griechenland stoppen, ist das auf der Seite zu lesen. „Natürlich können wir
       nicht die ganze Fülle der Gesetze darstellen“, sagt der Münchner Ethnologe
       Bernd Kasparek. Dennoch bilde die Seite „die Heterogenität des europäischen
       Asylrechts ab“. In ihrer Lückenhaftigkeit sei sie ein „Spiegel der
       gescheiterten Schaffung eines europäischen Asylsystems“. Immer stärker
       verknüpfen die Aktivisten die Seite in sozialen Netzwerken. Denn dort, das
       haben sie immer wieder erfahren, halten auch die vielen MigrantInnen, die
       sich unterwegs begegnen, Kontakt zueinander.
       
       ## Kein Mensch ist illegal
       
       Bei der Website blieb es nicht. 2010 verschoben sich die Fluchtrouten von
       der Ägäis zur Landgrenze am Evros. Immer mehr Flüchtlinge kamen dort an,
       doch jede institutionelle Hilfe für sie fehlte. Die Aktivisten beschaffen
       sich einen kleinen Bus, das „W2EU-Infomobil“. Ausgestattet mit
       Informationsmaterial fährt es seither durch Griechenland. In Hafenstädten
       wie Patras oder Igoumenitsa, wo viele Migranten unter meist elenden
       Bedingungen auf der Straße leben und darauf hoffen, sich auf eine der
       Fähren nach Italien schmuggeln zu können, bieten die Freiwilligen Infos an
       und dokumentieren die Lebenssituation der Flüchtlinge. Parallel startete
       W2EU politische Kampagnen. Die wichtigste davon richtete sich gegen das
       Dublin-II-Abkommen und begleitete die Klage eines Irakers, der gegen seine
       Abschiebung nach Griechenland das Bundesverfassungsgericht angerufen hatte.
       „Wir wollen dort sein, wo sich Bewegung und Revolte treffen“, sagt Marion
       Bayer.
       
       Doch da die meisten der Aktiven Europäer seien, bewege man sich „auf einem
       schmalen Grat zwischen Paternalismus und direkter Unterstützung“. Die
       Analogie zu den Abolitionisten liegt für sie nahe: „Die Forderung, das
       Töten an den Grenzen Europas zu beenden und das Elend der Illegalität
       abzuschaffen – das mag heute genauso utopisch klingen wie damals die
       Abschaffung der Sklaverei“, sagt sie. Doch heute schaffe die „Selektion an
       den Grenzen, die manchen etwas mehr und den meisten gar keine Rechte
       einräumt, im großen Maßstab Formen von Apartheid“. Das Streben nach
       Freiheit habe einst den Abolitionismus und die Anti-Apartheidskämpfe in
       Südafrika hervorgebracht. Darin sieht Bayer eine innere Verwandtschaft zum
       politischen Programm von W2EU. Dessen Grundformel beschreibt sie so: „Alle
       haben das gleiche Recht auf ihre Reise. Migration kann kein Verbrechen
       sein, denn kein Mensch ist illegal.“
       
       (…) Der junge Afghane aus Mazar-i-Sharif hat derweil einige Mails mit Infos
       über die Anerkennungschancen für Afghanen aus seiner Region in den
       verschiedenen EU-Ländern erhalten. „In seiner letzten Mail schrieb er, dass
       seine Gedanken nun klarer seien“, sagt Marion Bayer. Seine Mail endete mit
       „See you!“.
       
       15 Sep 2013
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://w2eu.info/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
       ## TAGS
       
   DIR USA
   DIR EU-Türkei-Deal
       
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