URI: 
       # taz.de -- Gesten im Wahlkampf: Phallus folgt auf Vagina
       
       > Wir wollten einen Wahlkampf mit starken Symbolen? Jetzt haben wir ihn.
       > Steinbrücks Mittelfinger ist der beste Gegenentwurf zur Merkel-Raute.
       
   IMG Bild: Merkels Raute ist als „Damenschild“ Sinnbild der Passivität.
       
       Der Wahlkampf 2013 hat seit Freitag ein überraschendes neues Thema. Gesetzt
       hat dieses Thema Peer Steinbrück in der aktuellen Ausgabe des SZ-Magazins.
       Für die schöne Rubrik „Sagen Sie jetzt nichts“, ein Interview ohne Worte,
       wurde der SPD-Kanzlerkandidat gefragt: „Pannen-Peer, Problem-Peer,
       Peerlusconi – um nette Spitznamen müssen Sie sich keine Sorgen machen,
       oder?“
       
       Steinbrück, der bis dahin augenscheinlich abwehrend die Arme verschränkt
       hatte, hob die Rechte zum sogenannten „Stinkefinger“. Ein spontanes „Fuck
       you!“ also und so dynamisch, dass die Bewegung noch zu erahnen, die Hand
       auf dem Foto nur leicht unscharf zu sehen ist.
       
       Die Geste korrespondiert nicht nur mit seinem Gesichtsausdruck – der Blick
       angriffslustig, der Mund halb geöffnet, die Zunge scheinbar drauf und dran,
       ein „Leck mich!“ zu formulieren. Sie korrespondiert, als gestische
       Entsprechung, auch mit Steinbrücks Hang zum „Klartext“. Der brauche „nicht
       immer Worte“, wie der Kandidat sogleich twitterte.
       
       Steinbrück hatte den Abdruck des Bildes selbst abgesegnet: „Das ist okay
       so.“ Es handelt sich also um eine gezielte Provokation. Wir wollten doch
       einen polarisierenden Wahlkampf mit starken Symbolen und harten Bandagen,
       oder? Hier haben wir ihn, es war hohe Zeit.
       
       Nun bleibt die Geste obszön, auch wenn sie ironisch gemeint gewesen sein
       mag. Schon in der Antike kannte man den „schamlosen Finger“ (digitus
       impudicus), in Deutschland hat er sich erst in den sechziger Jahren
       durchgesetzt. Im Straßenverkehr kann er bis zu 4.000 Euro, in der Firma
       sogar den Job kosten. Zugleich aber legt § 199 StGB fest: „Wenn eine
       Beleidigung auf der Stelle erwidert wird, so kann der Richter beide
       Beleidiger oder einen derselben für straffrei erklären.“ So gesehen, käme
       Steinbrück ungeschoren davon.
       
       ## Reflexhafte Kritik
       
       Umso interessanter, wer sich jetzt plötzlich alles an seine angeblich so
       gute Kinderstube erinnert. Nicht nur in den als „soziale Medien“ getarnten
       Durchlauferhitzern öffentlicher Empörung. Auch in der FDP, deren Chef
       Philipp Rösler weiß: „So etwas geht nicht.“ Laut einer Umfrage von Bild
       finden ihre Leser die Aktion mehrheitlich „nicht klug“. Leser derselben
       Zeitung, wohlgemerkt, die seit Tagen begeistert mit der von Angela Merkel
       im TV-Duell getragenen „Deutschlandkette“ herumspielt und damit die
       politische Debatte – im Sinne der Kanzlerin – auf ein modisches
       Tchibo-Niveau herunterfährt.
       
       Das Schwesterblatt Welt schreibt vergnügt: „Mit dem Stinkefinger indes lädt
       Steinbrück zur von ihm so wenig geschätzten Vergabe von ’Haltungsnoten‘
       ein.“ Womit, „indes“, der Rückfall ins bürgerliche Biedermeier der bigotten
       fünfziger Jahre vollendet wäre. Dazu fügt sich die reflexhafte Kritik von
       linksfeministischer Seite, beim Stinkefinger handele es sich um ein
       machohaftes „Phallussymbol“ – weswegen sich Frauen dieser Geste bekanntlich
       niemals bedienen würden, nicht wahr?
       
       Wenn nun aber Steinbrück sein volkstümlicher Finger als aggressiv
       penetrierender Phallus ausgelegt werden darf, dann steht einer
       Interpretation von Angela Merkels berüchtigter „Raute“ als Vagina nichts
       mehr im Wege. Die klafft auf einem Plakat von 2.400 Quadratmetern über dem
       Berliner Hauptbahnhof und „verkörpert unsere Wahlaussage“, wie
       CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sagte.
       
       ## Kein Skandal
       
       In der Heraldik wird die Raute auch als „Damenschild“ bezeichnet. In den
       Händen von Angela „Sie kennen mich“ Merkel wurde aus einer
       Verlegenheitsgeste ein Sinnbild für Ruhe, Gleichmut, mithin: Passivität.
       Damit steht es für das „Weiter so!“, gegen das Steinbrück und seine SPD
       anrennen. Mag sein, dass den Kandidaten diese Geste nicht präsidiabel
       macht.
       
       Es könnte aber sein, dass sie ihn „kanzlerabel“ macht – bei allen Menschen,
       die den Mehltau von „Muttis“ einlullend-präsidialem Regierungsstil noch
       nicht vollends verinnerlicht haben. Steinbrücks Stinkefinger ist kein
       Skandal. Sondern der einzig denkbare Gegenentwurf zur Merkel’schen Raute.
       
       13 Sep 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Arno Frank
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Angela Merkel
   DIR Peer Steinbrück
   DIR Wahlkampf
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Peer Steinbrück
   DIR Wolfgang Kubicki
   DIR Peer Steinbrück
   DIR Steinbrück
   DIR Wahlkampf
   DIR Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
   DIR Wahlkampf
   DIR Peer Steinbrück
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Peer Steinbrück kritisiert die Medien: „Ich bin keine Leberwurst, aber...“
       
       Kurz vor der Bundestagswahl hätte man ihn in die Nähe von Stasi und KGB
       ziehen wollen. Nicht nur das ging Peer Steinbrück dann doch deutlich zu
       weit.
       
   DIR Wolfgang Kubicki im Wahlkampf: Mit dem Rücken zum Meer
       
       Der Talkshowkönig von der FDP verkauft sich im Wahlkampf als die „Freiheit
       in Person“. Kommt er bei einem Auftritt in der Kleinstadt damit an?
       
   DIR Kommentar Steinbrück-Erpressung: Rührend gestrige Hybris
       
       Die Erpressung Steinbrücks durch Herrmann Ude, ehemaliges Vorstandsmitglied
       der Deutschen Post, wirft ein verheerendes Licht auf die „Eliten“ in
       Deutschland.
       
   DIR Genese einer universellen Geste: Flipping the Mittelfinger
       
       Peer Steinbrück zeigt uns seinen Mittelfinger. Warum gerade den? Was
       bedeutet das? Eine kurze Kulturgeschichte des Fingerzeigens.
       
   DIR Steinbrück im „SZ-Magazin“: Den Finger am Anzug
       
       Fuck you! Steinbrück streckt den Mittelfinger in die Kamera und inszeniert
       Authentizität. Ist der Mann arschcool oder saudoof?
       
   DIR Letzte Umfrage vor der Wahl: Die Opposition holt auf
       
       SPD, Grüne und Linke kommen im neuesten „Deutschlandtrend“ zusammen auf 46
       Prozent. Union und FDP erreichen 45 Prozent.
       
   DIR Kommentar Online im Wahlkampf: Dialektik des Grauens
       
       Lange wurde von deutschen Parteien gefordert, das Netz müsse im Wahlkampf
       wichtiger werden. Nun zeigt sich: Diese pauschale Forderung war falsch.
       
   DIR Nach dem TV-Duell: Suche nach dem Swing
       
       Das TV-Duell zwischen Peer Steinbrück und Angela Merkel hat viele Menschen
       für Politik interessiert. Und es hat für Rot-Grün einen Moment der
       Offenheit erzeugt.