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       # taz.de -- Die Wahrheit: In der bösartigen Landschaft
       
       > Kurz vor meinem Ziel hielt der Zug auf freier Strecke. Die Reisenden
       > wurden über Lautsprecher informiert, es gehe nicht weiter.
       
   IMG Bild: Hat alle neun Leben schon verbraucht: Katzendämon im Geisterzug.
       
       Es war so, dass die Landschaft, von der hier berichtet werden soll, von
       heimtückischer, menschenfeindlicher Natur war. Sie veränderte sich nicht
       nur willkürlich, sondern beeinflusste auch das Denken derer, die sich in
       ihr aufhielten.
       
       Ich fuhr damals mit dem Zug durch besagte Gegend und war mit einem Mal
       sicher, dort eine Fabrik geerbt zu haben und nun unterwegs zu sein, um sie
       zu besichtigen. In allen Einzelheiten erinnerte mich, wie ich von der
       Erbschaft erfahren, einen Termin vereinbart und meine Reise geplant hatte.
       Kurz vor meinem Ziel hielt der Zug auf freier Strecke. Die Reisenden wurden
       über Lautsprecher informiert, es gehe nicht weiter und der Zug werde nun
       wieder zurückfahren. Das passte mir schlecht, weshalb ich mich mit dem
       Schaffner besprach. Er meinte, ich könne aussteigen und den Rest des Weges
       zu Fuß zurücklegen. Bis zu meinem Zielbahnhof sei es kein Kilometer mehr.
       Auf meine Frage, was denn der Grund für den Abbruch der Fahrt sei,
       antwortete er: „Die Schienen sind weg. Alle. In beide Richtungen.“
       
       Wie ich nach dem Aussteigen sehen konnte, verhielt es sich wirklich so. Die
       Schwellen lagen noch vollzählig an ihrem Platz, die Gleise indes fehlten.
       Erst jetzt wurde mir bewusst, dass dieser Umstand zwangsläufig Einfluss auf
       meine Heimreise hatte. Die Neuverlegung ganzer Schienenstränge würde kaum
       in ein paar Tagen abgeschlossen sein. So plötzlich, wie sie gekommen war,
       verließ mich die Überzeugung, in dieser Gegend eine Fabrik geerbt zu haben.
       Dummerweise war der Zug bereits fort. Mir blieb nichts anderes übrig, als
       zu der nahen Stadt zu gehen und mich neu zu orientieren.
       
       Hundert Meter weiter erreichte ich eine sogenannte Blockstelle, ein
       zweistöckiges Backsteingebäude auf einer eingezäunten, gartenartigen
       Grünfläche. Es stand jemand am Zaun, eine relativ junge Frau. Ich habe
       jetzt überhaupt keine Lust, diese Person zu beschreiben, die Formulierung
       von Sachverhalten ist mir ein Greuel, das möchte ich an dieser Stelle
       einmal anmerken. Es muss reichen, wenn ich sage, die Frau war mittelgroß
       und sah durchschnittlich aus. Diese Beschreibung traf ebenfalls auf mich
       zu, nur, dass ich weniger Haare hatte. Ich grüßte und schilderte ihr kurz
       meine missliche Situation.
       
       „Ja“, sagte die Frau, „die Landschaft hat Sie hereingelegt. Sie trachtet,
       alle Menschen zu vernichten, und macht sie zu diesem Zweck verrückt. Ich
       bin die Tochter des Blockstellenwärters. Mein Vater kann Sie leider nicht
       begrüßen, er ist krank.“
       
       Dann sprach sie davon, wie gern sie professionelle Pianistin geworden wäre,
       dass es immer ihr Wunsch gewesen sei, zu reisen, überall Konzerte zu geben
       und die Welt kennenzulernen. Stattdessen sei sie aber verdammt, in dieser
       Einöde zu hausen, in einer menschenfeindlichen Gegend, weil ihr Vater auf
       sie angewiesen sei. Wegen seiner Krankheit müsse sie die notwendigen
       Arbeiten verrichten und werde die Blockstelle einmal von ihm erben. Ihr
       einziger Trost sei das Harmonium, auf dem sie manchmal spiele.
       
       Ich bedankte mich und setzte meinen Weg fort.
       
       9 Sep 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Eugen Egner
       
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