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       # taz.de -- Kampf ums koloniale Erbe: Der beschmutzte Name
       
       > Seine Angehörigen kämpfen um den Ruf des Kolonialfeldherrn Paul von
       > Lettow-Vorbeck. Dabei geht es um Identität und Integrität, die Bewertung
       > der Kolonialgeschichte und moralische Standards.
       
   IMG Bild: Kämpft um das Andenken seines Großvaters: Hans-Caspar Graf zu Rantzau
       
       PRONSTORF/HAMBURG taz | Der 9. März 1964 ist ein ungemütlicher Tag im
       holsteinischen Pronstorf. Auf dem Hügel über dem Dorf bei Lübeck ist eine
       Ehrenkompanie der Bundesmarine angetreten. Verteidigungsminister Kai-Uwe
       von Hassel hält die Grabrede. Den Sarg mit dem Afrikanerhut, einem
       Cowboyhut mit einseitig aufgeschlagener Krempe, begleiten zwei magere,
       schwarze Männer mit Fez. Beigesetzt wird Paul von Lettow-Vorbeck – ein Held
       des Ersten Weltkrieges.
       
       „Es war lausekalt“, erinnert sich Hans-Caspar Graf zu Rantzau. Er steht vor
       einem schnörkellosen grauen Grabstein, auf dem mit serifenlosen Buchstaben
       der Name seines Großvaters verewigt ist: „Paul von Lettow-Vorbeck, General
       der Infanterie außer Dienst“. Rantzau ist Gutsherr in Pronstorf. Zum
       Gottesdienst sitzt er mit Frau und Töchterchen in einem Schrein im Chor,
       dem „Patronatsstuhl“, der dem Schutzherrn der Kirche vorbehalten ist. Bei
       der Beerdigung war er dreieinhalb Jahre alt. In Erinnerung geblieben sind
       ihm vor allem die schwarzen Männer, die die Bundesregierung für die
       Beisetzung einfliegen ließ – ehemalige Kämpfer Lettow-Vorbecks. Heute
       kämpft Rantzau um den Ruf seines Großvaters.
       
       Hans-Caspar hat die Töchter des Generals, Heloise und Ursula zu Rantzau,
       seine Mutter und seine Tante, dazu gedrängt, den Historiker Helmut Bley zu
       verklagen. In einem Gutachten für die Stadt Hannover hatte Bley bewerten
       sollen, ob heute noch eine Straße nach dem Kolonialkrieger heißen könne.
       Bley plädiert für eine Umbenennung. Seinen Aufsatz schließt er mit der
       These, dass bei Lettow-Vorbeck „eine völlig amoralische Position gegenüber
       Menschenrechten und Menschenwürde sich entwickelt hat, außerdem ein radikal
       gestörtes Verhältnis zur Politik im Interesse des Primats des
       Militärischen“.
       
       Als Lettow-Vorbeck beerdigt wurde, war seit seiner Teilnahme an den
       Vernichtungsfeldzügen gegen die Herero und Nama in Südwestafrika und seinem
       Guerillakrieg gegen die Briten in Ostafrika ein halbes Jahrhundert
       vergangen. Ein weiteres halbes Jahrhundert ist die Beerdigung in Pronstorf
       heute her. Schien es damals selbstverständlich, dass die Bundesregierung
       Lettow-Vorbeck ein Ehrenbegräbnis ausrichtete, soll sein Name jetzt nicht
       mehr gut genug sein, um danach eine Straße in Hannover zu benennen?
       
       Rantzau kann das nicht verstehen. Zwar gehe er „nicht auf die Barrikaden,
       weil eine Straße umbenannt worden ist“, aber dass seinem Großvater
       Verbrechen gegen die Menschlichkeit angelastet werden, dass er damit zum
       Unmenschen gestempelt wird – das kann er nicht akzeptieren. Wer Bleys
       Gutachten lese, müsse sich sagen: „Es ist eine Schande, dass wir so
       jemanden hatten in Deutschland.“ Bleys Ausarbeitung sei an vielen Stellen
       falsch und entspreche auch nicht dem Charakter seines Großvaters.
       
       Den Töchtern und dem Enkel gilt Lettow-Vorbeck vor allem als „großer Mann“.
       Einer, der nach Lesart der Familie bescheiden war und humorvoll; hart, aber
       nicht unmenschlich; der einen ritterlichen Krieg führte, der von seinen
       Mannschaften – auch den Schwarzen – verehrt und vom Kriegsgegner geachtet
       wurde.
       
       In der dunklen Diele des Herrenhauses in Pronstorf steht unter den Blicken
       in Öl gemalter Adliger aus dem 18. Jahrhundert eine Bronzebüste des
       Generals: Der ehemals kugelrunde Kopf ist im Vergleich zu früheren Porträts
       an den Wangen eingefallen. Es bleiben eine kräftige Nase und die leicht
       zusammengepressten Lippen. Es ist das Gesicht eines Mannes, der sich
       entschlossen hat, den Wechselfällen des Lebens mit Gleichmut zu begegnen.
       
       1940 und 1941 fallen seine Söhne. Der General lässt sich nichts anmerken.
       „Er war stark“, erinnert sich Heloise Gräfin zu Rantzau. Ein Preuße, der
       auch seine Kinder im preußischen Geist erzogen habe – streng aber
       weichherzig. Erzählt habe er nicht viel. „Lies doch meine Bücher!“, sagte
       er, wenn die Töchter ihn fragten.
       
       Die Schwestern gehen stark auf die 90 zu. Ihre Stimmen klingen 30 bis 40
       Jahre jünger. Sie erzählen davon, wie angesehen ihr Vater beim ehemaligen
       Kriegsgegner war. Als Lettow-Vorbeck in den 1920er-Jahren London besuchte,
       hätten die ehemaligen Feinde „For he’s a jolly good fellow“ gesungen – eine
       Auszeichnung, wie Ursula zu Rantzau betont. Und nach dem Zusammenbruch von
       1945 habe der südafrikanische General Jan Smuts, Lettow-Vorbecks
       Kriegsgegner in Ostafrika, seine Hilfe angeboten.
       
       Heloise, die ältere, steht schlank und aufrecht wie ein Bambusrohr. Anfang
       der 1950er-Jahre reiste sie mit ihrem Vater und Reportern der Deutschen
       Illustrierten durch Afrika. Sie erinnert sich, wie ihr Vater am Waterberg
       im heutigen Namibia Munition aufklaubte – dort, wo ihr Vater als Adjutant
       des Generals von Trotha geholfen hatte, das Volk der Herero in die Wüste zu
       treiben. Auf der Rückreise wurden sie vom Sultan von Sansibar empfangen,
       und bei einem Stopp im tansanischen Daressalam sank ein Schwarzer vor ihrem
       Vater auf die Knie.
       
       „Mein Vater genoss großes Ansehen und Verehrung bis zu seinem Tode hin“,
       sagt Heloises Schwester Ursula zu Rantzau. Er und seine Leute hätten ihr
       Bestes gegeben. „Das soll man jetzt nicht mit Schmutz bewerfen.“
       
       Doch die Bewertung dieses „Besten“ hat sich geändert. Im Oktober 2007
       beantragte Siegfried Seidel, Ratsherr im hannöverschen Stadtbezirk
       Ahlem-Badenstedt-Davenstedt, die Umbenennung der Lettow-Vorbeck-Allee. Nach
       dem Beitritt der Landeshauptstadt Hannover zur Europäischen Städtekoalition
       gegen Rassismus sei es „an der Zeit, Straßennamen in Hannover, die nach
       Rassisten benannt sind, umzubenennen“, argumentierte Seidel. Die SPD machte
       sich den Antrag zwei Wochen später in leicht veränderter Form zu eigen: Dem
       Namenspatron seien Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen
       anzulasten.
       
       Die Anwohner ließen ihren Anwalt dagegenhalten, worauf die Stadt den
       Historiker Helmut Bley bat, das Wirken Lettow-Vorbecks zu bewerten. Bley
       hat in den 1970er-Jahren ein einschlägiges Werk über die deutsche
       Kolonialherrschaft in Afrika verfasst, das seither mehrfach neu aufgelegt
       worden ist. Er stellte fest, „dass Lettow-Vorbeck persönlich an Kriegs- und
       Menschenrechtsverbrechen in Afrika und Deutschland, wahrscheinlich auch in
       China beteiligt war“. Bis zu seinem Tod habe er jegliche Reflexion seines
       Verhaltens und seiner Maßstäbe vermissen lassen.
       
       Die Rantzaus finden das ehrenrührig. Sie halten sich streng an das, was ihr
       Vater und Großvater aufgeschrieben hat, und darin ist von Gräueln nur
       andeutungsweise die Rede. Er spricht davon, dass Deserteure ihrer
       verdienten Strafe zugeführt worden seien und äußert in seinen Memoiren,
       dass ein Aufstand wie der der Herero „erstmal mit allen Mitteln ausgebrannt
       werden muss. Der Schwarze würde Weichheit nur als Schwäche sehen.“ Nach
       Wiederherstellung der Autorität müsse freilich alles geschehen, um die
       Missstände abzustellen.
       
       Lettow-Vorbeck rühmt die Tapferkeit, den Soldatenstolz und das
       Pflichtgefühl seiner afrikanischen Mitstreiter, betont allerdings stets den
       Vorrang der Europäer. „Deutsches Soldatentum hatte ihnen ihren Stempel
       aufgedrückt“, schreibt er im Vorwort zu seinem Bestseller „Heia Safari“.
       „Kein materielles Lockmittel konnten wir ihnen geben; wir boten ihnen nur
       Kämpfe, Entbehrungen, Verluste.“ Sie hätten nach dieser Lesart gekämpft,
       wie es sich für preußisch-deutsches Militär gehörte.
       
       Bley sieht das anders. Wegen des laufenden Gerichtsprozesses will er sich
       nicht mündlich äußern, in seinem Gutachten schreibt er: „Von dem zu ’treuen
       Askari‘ stilisierten afrikanischen Söldnern desertierten ca. 25 Prozent.
       Ein Teil verdingte sich bei den Alliierten, andere versuchten in Mozambique
       im Busch zu überleben.“ An anderer Stelle gibt er an, dass „mindestens 14
       Prozent der Träger und Askari“ desertiert seien. Der Rassismus habe die
       Radikalisierung dieses Krieges gefördert, bei der beide Seiten das Land
       ausplünderten und Träger zwangsrekrutierten.
       
       Bley wirft Lettow-Vorbeck vor, er habe „im Interesse der Legende des guten
       deutschen Kolonialherrn und des Mythos seiner ’treuen Askari‘ eher
       militärische Tugenden betont, um die Rückgabe der deutschen Kolonien zu
       begründen“. Er sei verantwortlich für Kriegsverbrechen nicht nur gegenüber
       Afrikanern, sondern auch Soldaten der Alliierten, und habe überdies am
       ersten deutschen Völkermord, der Beinahe-Auslöschung der Herero im
       ehemaligen Deutsch-Südwestafrika teilgenommen.
       
       „Man hat sich eines Wissenschaftlers bedient, von dem man wusste, dass er
       in eine bestimmte Richtung tendiert“, sagt Hans-Caspar zu Rantzau. Bley
       berufe sich vor allem auf seine eigenen Forschungen und eine 2006 im
       Ch.-Links-Verlag erschienene Biografie von Uwe Schulte-Varendorff, der sich
       mit steilen Thesen zu profilieren suche. „Sie machen Karriere, wenn Sie das
       Gegenteil von dem behaupten, was bisher galt“, sagt Rantzau. Die Familie
       will die angeführten Belege von anderen Wissenschaftlern nachprüfen lassen.
       „Wir müssen für die Gerechtigkeit auch kämpfen“, sagt der Enkel.
       
       Rantzau wirbt dafür, seinen Großvater nach den Maßstäben der Zeit zu
       beurteilen, in der er lebte. Der Feldzug in Ostafrika habe im Ersten
       Weltkrieg alliierte Truppen gebunden, die sonst in Europa eingesetzt worden
       wären. „Nur weil jemand in dieser Zeit gelebt hat, ist es leicht, ihn zu
       verteufeln“, sagt Rantzau. „Man weiß ja, dass nach damaligem Maß anders
       verfahren wurde.“
       
       Mit dem Vorgehen gegen die Herero zehn Jahre zuvor in Südwestafrika habe
       Lettow-Vorbeck ein Problem gehabt, sagt seine Familie. „Mein Vater hat
       Trotha geraten, das um Gottes willen zu lassen, die Leute in die Wüste zu
       treiben“, versichert seine Tochter Ursula. Lettow-Vorbeck sei zu 100
       Prozent gegen die Vernichtung der Herero gewesen und Gott sei Dank
       verwundet worden, sodass er in die Heimat zurückkehren musste.
       
       Der Enkel erinnert sich an seinen Großvater „als großen Mann, der mit uns
       spielte“, der morgens Grießbrei aß und durchgefroren von der Jagd
       wiederkam. Lettow-Vorbeck lebte zuletzt in Hamburg. Auf das Gut seiner
       Tochter, das heute Hans-Caspar verwaltet, kam er zu Besuch.
       
       Der Enkel hat das Gut von Schweineproduktion auf Tourismus umgestellt, er
       hat den Beton und Asphalt zwischen dem Torgebäude und dem Herrenhaus
       wegreißen lassen und durch Kopfsteinpflaster ersetzt. Aus dem Torhaus, das
       nach heutigen Standards nicht mehr als Getreidespeicher taugt, machte er
       ein Hotel. „Man musste immer wieder sehen, dass man das in die Zeit
       bringt“, sagt er.
       
       Das Gut repräsentiert die Familientradition, die Hans-Caspar Graf zu
       Rantzau in die Zukunft zu führen versucht. „Mein Großvater hat unter drei
       Kaisern gedient, dass der im Herzen Monarchist war, können Sie ihm nicht
       verübeln“, sagt er. Der Maßstab für die Bewertung des Generals sei, wie
       dieser Menschen behandelt habe.
       
       Und was, wenn sich Lettow-Vorbeck im Verlauf der weiteren Forschung als
       Unmensch erweisen sollte? „Dann wären wir die ersten, die sagen würden: dem
       drehen wir den Rücken zu“, sagt der Enkel.
       
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       7 Sep 2013
       
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