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       # taz.de -- Blogger Nawalny und der Kreml: Ein ungleicher Kampf
       
       > Russlands bekanntester Regimegegner will am Sonntag Bürgermeister in
       > Moskau werden. Er wird es nicht schaffen, dafür sorgen die Mächtigen.
       
   IMG Bild: An den Rand gedrängt? Wahlwerbung für Nawalny in Moskau.
       
       MOSKAU taz | „Verändere Russland und fang mit Moskau an!“ So lautet Alexej
       Nawalnys zentrale Botschaft für die Bürgermeisterwahl am kommenden Sonntag
       in der russischen Hauptstadt. Auf Deutsch klingt das sperrig, die russische
       Urfassung mit ihrem rhythmischen Drive vergleicht mancher Beobachter mit
       Barack Obamas „Yes we can“.
       
       Überhaupt wird dem bekanntesten Oppositionellen Russlands nachgesagt, er
       sei der Erste, der einen Wahlkampf nach US-amerikanischem Vorbild führe.
       Seine [1][Präsenz in den sozialen Netzen], sein [2][Sammeln von Spenden
       über das Internet] und seine Nähe zu seiner blonden Ehefrau, mit der er
       sich gern händchenhaltend in der Öffentlichkeit zeigt, sind nur einige
       Parallelen. In der Ära Wladimir Putins wurden die Frauen russischer
       Politiker ansonsten wieder hinter die Bühne verbannt.
       
       Zum ersten Mal seit zehn Jahren dürfen die Moskauer am 8. September ihren
       Bürgermeister wieder selbst wählen. Im Jahr 2005 hatte Präsident Putin im
       Namen der Stabilität und des Kampfes gegen Terrorismus die Wahl der
       regionalen Chefs abgeschafft. 2012 machte er das Verbot rückgängig, nachdem
       Zigtausende Menschen Ende 2011 gegen die Manipulation der Dumawahlen auf
       die Straße gegangen waren und den Kreml aufgefordert hatten, die Wahl der
       Gouverneure wieder einzuführen.
       
       Zähneknirschend ließ sich Putin zunächst darauf ein. Das neue Gesetz
       überlässt jedoch nichts dem Zufall. Nur wer Filtermaßnahmen des Kremls
       passiert, darf zu den Wahlen antreten.
       
       ## Inszeniertes Durcheinander?
       
       Dass mit Nawalny ausgerechnet der hartnäckigste Widersacher des Kremlchefs
       die Schleuse passiert, wollte im sommerlichen Moskau kaum jemand glauben –
       zumal gegen ihn gerade im nordrussischen Kirow ein Verfahren wegen
       vermeintlicher Veruntreuung lief und Nawalny in einem Schauprozess zu fünf
       Jahren Haft verurteilt wurde. Noch im Gerichtssaal wurden ihm und einem
       Mitangeklagten die Handschellen angelegt.
       
       Tags drauf jedoch schaltete sich die Staatsanwaltschaft ein und verfügte,
       die beiden Verurteilten bis zur Berufungsverhandlung auf freien Fuß zu
       setzen. Den Justizbehörden sei ein Fehler unterlaufen, hieß es. Die
       Verwirrung war perfekt. Denn obwohl verurteilt, konnte der charismatische
       Volkstribun nun in den Moskauer Wahlkampf einsteigen.
       
       Hatte Wladimir Putin dieses Durcheinander bewusst inszeniert? Oder war es
       die Folge von internen Kämpfen im Umfeld des Kremlchefs, wie einige
       Experten vermuten? Eine klare Strategie schien nicht vorzuliegen. Die
       Verhältnisse im Kreml sind jedenfalls nicht mehr so geordnet wie einst, als
       Wladimir Putin noch unangefochtener Herr seines Reiches war.
       
       ## Segen des Ziehvaters
       
       Unbestritten ist, dass der amtierende Moskauer Bürgermeister Sergej
       Sobjanin durch möglichst offen aussehende Wahlen an Glaubwürdigkeit
       gewinnen möchte. Er war es, der im Juni überraschend seinen Rücktritt
       einreichte. Natürlich hatte er vorher seinen Ziehvater Putin um Erlaubnis
       gebeten. Von ihm war der 55-jährige Technokrat vor drei Jahren zum „Mer“,
       wie die Russen ihren Bürgermeister nennen, ernannt worden.
       
       Das Kalkül dürfte gewesen sein, dass er bei vorgezogenen Neuwahlen besser
       abschneidet als nach Ablauf der regulären Frist in zwei Jahren. Und gegen
       einen echten und populären Gegner wie Nawalny anzutreten und auch noch zu
       siegen, statt sich nur mit Vertretern der gleichgeschalteten
       „systemkonformen“ Opposition zu messen, erhöht das Ansehen und die
       Legitimität.
       
       Der amtierende Bürgermeister muss den Herausforderer nicht wirklich
       fürchten. In Umfragen erreicht Sobjanin schon im ersten Wahlgang mehr als
       die erforderlichen 50 Prozent. Der trockene Technokrat ist bei den Bürgern
       nicht unbeliebt und gab der Hauptstadt in den letzten drei Jahren auch
       schon ein sichtbares Facelifting. Das schätzen die Moskauer, die in der
       Rolle des Bürgermeisters eher einen „Chosain“ sehen möchten, einen
       zupackenden Hausherrn.
       
       ## In Umfragen zwischen 16 und 22 Prozent
       
       Sobjanin hält es wie Putin. Er begibt sich nicht in die Niederungen
       öffentlicher Politik: An TV-Duellen nimmt er nicht teil. Alexej Nawalny
       auch nicht – indes nicht, weil er Auseinandersetzungen fürchtet, sondern
       weil er den Aufwand für verschwendet hält. Nur zwei kleine Sender mit
       geringer Reichweite veranstalten Gesprächsrunden, und das frühmorgens.
       
       Im Stadtbild findet die Wahl kaum statt, auch das ist beabsichtigt. Denn
       die treuen Kreml-Anhänger brauchen keinen Stimulus, um zur Wahl zu gehen.
       Sie machen es aus Pflichtgefühl. Eine hohe Wahlbeteiligung hingegen könnte
       Sobjanins Ergebnis beeinträchtigen. Für den Kreml käme es einer Blamage
       gleich, wenn sein Kandidat 50 Prozent verfehlte und in eine zweite Runde
       müsste.
       
       Herausforderer Nawalny schwankt in Umfragen zwischen 16 und 22 Prozent. Ein
       zweiter Wahlgang wäre somit nur möglich, wenn auch die anderen Mitbewerber,
       allen voran die Kommunisten, die nationalistischen Liberaldemokraten und
       der Kandidat der demokratischen Partei Jabloko, jeweils an die zehn Prozent
       heranrücken. Doch so weit wird es der Kreml nicht kommen lassen. Mit
       Wahlmanipulationen vor, während und nach der Stimmenabgabe verfügt die
       russische Herrschaftszentrale über mannigfaltige Erfahrungen.
       
       ## Schmutzige Tricks
       
       An sauberen und fairen Wahlen haben die Mächtigen kein Interesse. Sie bauen
       darauf, dass Antikorruptionsblogger Nawalny, den der Nimbus eines
       gefährlichen Helden umgibt, durch ein schlechtes Ergebnis demontiert wird.
       Darauf konzentrieren sich im Wahlkampf alle Kräfte. Die Iswestija
       berichtete unter Berufung auf die Sicherheitsorgane, dass Nawalnys
       Wahlkampfstab plane, den Verkehr in der Stadt lahmzulegen, durch künstliche
       Dampfentwicklung in der Metro für Aufruhr zu sorgen und das eigene Büro zu
       überfallen. Der Erfindungsgeist der Geheimdienstler kennt keine Grenzen.
       
       Gelegentlich wird es auch handgreiflich, wenn die Polizei bei Mitstreitern
       die Tür aufbricht und die Wohnung auf den Kopf stellt. Auf Wahlplakate und
       Transparente auf Balkons und Dachfirsten hat sich eine Eingreiftruppe von
       Industriealpinisten spezialisiert, die diese sofort entsorgt. Letzte Woche
       wurden aus Montenegro angeblich Daten des Finanzamtes übermittelt, wonach
       der Jurist Nawalny dort eine Firma besitze, die er den russischen Behörden
       verschwiegen habe.
       
       Das stellte sich als Ente heraus. Anders erging es Amtsinhaber Sobjanin,
       dem Nawalny in seinem Antikorruptionsblog unterstellt hat, seine 16-jährige
       Tochter sei bereits Eigentümerin einer 300-Quadratmeter-Wohnung in Moskau.
       Kaum machte diese Enthüllung die Runde, da legte der Blogger nach: Seht da,
       auch die ältere Tochter besitzt schon zwei Apartments! In Petersburg und
       Moskau. Gesamtwert aller drei Immobilien: zehn Millionen Dollar.
       
       ## Das russische Dilemma
       
       Nawalnys Eingriffe haben die Elite erheblich unter Druck gesetzt. Zunächst
       demontierte der Blogger die Kremlpartei Vereintes Russland, die er „Partei
       der Diebe und Gauner“ taufte. Erst ging Putin zu ihr auf Distanz,
       schließlich verzichtete auch der Bürgermeister auf ihre Unterstützung und
       tritt nun als unabhängiger Kandidat an. Auch das ist ein Zeichen des
       Zerfalls, mehr aber noch nicht.
       
       Nawalny und seine Mannschaft lassen sich nicht entmutigen. Mindestens drei
       Termine mit Wählern nimmt er täglich wahr, vor allem mit jenen, die nicht
       zur klassischen Klientel der Anhänger aus den sozialen Netzen stammen.
       Tausende junge Helfer unterstützen ihn im Straßenwahlkampf. Viele von
       ihnen, vor allem die jüngeren, träumen heimlich noch. Ein Triumph wäre es
       schon, wenn Nawalny eine Million Stimmen auf sich vereinigen könnte.
       
       Davor fürchtet sich der Kreml, denn dann wäre die Opposition eine
       ernstzunehmende Kraft. Fest steht: Je mehr für den Herausforderer stimmen,
       desto kürzer wird die Haftstrafe in seinem Berufungsverfahren ausfallen.
       Sonst würde aus dem Helden noch ein Märtyrer.
       
       Die Geschichte Alexej Nawalnys zeigt das russische Dilemma auf. Auch der
       mutige Blogger stellt keine wirkliche Alternative zum System Putin dar, das
       auf personalisierter Macht beruht und demokratische Institutionen nur als
       Dekoration benutzt. Auch Nawalny ist im Grunde ein Ein-Mann-Unternehmen,
       das die russische Sehnsucht nach Rettern und Helden bedient.
       
       8 Sep 2013
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://navalny.ru/
   DIR [2] http://navalny-en.livejournal.com/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
       ## TAGS
       
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