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       # taz.de -- Plädoyer für neue Koalitionsoptionen: Schluss mit der Bräsigkeit
       
       > Mit der Stabilität brechen: Nur durch die Beteiligung an einer
       > Minderheitsregierung kann die SPD ihren Untergang verhindern.
       
   IMG Bild: Kein Mut zur Minderheitsregierung: dann kann die SPD einpacken
       
       Am 22. September, gegen 22 Uhr schlägt nicht nur die Stunde der Wahrheit,
       sondern auch die von Mut und Verantwortung. Es war ein Freund Nietzsches,
       der Baseler Theologe Franz Overbeck, der einmal bemerkte, „dass anders als
       mit Verwegenheit eine Theologie nicht wieder zu gründen ist“. Ersetzt man
       den Ausdruck „Theologie“ durch den Begriff „Politik“, so gilt das Nämliche
       für den inzwischen zur „kapitalistischen Demokratie“ (Wolfgang Streeck)
       degenerierenden „demokratischen Kapitalismus“ in jenem Teil Europas, der
       „Deutschland“ heißt.
       
       An jenem Sonntag im September wird es nicht nur darum gehen, sich eines
       bräsigen Gefühls des „Immer weiter so“ zu entledigen, sondern vor allem
       darum, das von Angela Merkel ingeniös umgesetzte TINA-Prinzip ihres
       Vorgängers außer Kraft zu setzen. Schröders polternde Ansage „There Is No
       Alternative“ ist von Merkel – ganz ohne des Machokanzlers großspurige Art –
       mit hausfraulicher Beharrlichkeit, still und leise umgesetzt worden, sodass
       jetzt tatsächlich zur Debatte steht, ob Politik, also demokratisch gewollte
       und umstrittene Entscheidungen, überhaupt noch möglich sind. Bleibt Merkel
       und mit ihr Schwarz-Gelb, so wird das Abgleiten in den sanften Schlummer
       der „Postdemokratie“ kaum noch zu verhindern sein.
       
       Gewiss: In Geschichte und Politik passiert es nur selten, dass – um es
       englisch auszudrücken – „persons make a difference“. Tritt jedoch der
       seltene Fall halbwegs offener Situationen ein, so kommt es – allen
       strukturalistischen Einwänden zum Trotz – tatsächlich auf einzelne Personen
       und ihre Haltungen, auf ihre Tugenden und Laster an.
       
       Genauer: Sollten es das Wetter und mit ihm eine hoffentlich hohe
       Wahlbeteiligung zulassen, so ist durchaus denkbar, dass Merkel und Rösler
       am 22ten um 22 Uhr mit 46 Prozent der Stimmen unter der absoluten Mehrheit
       der Bundestagsmandate bleiben. Dann aber wird sich zeigen, ob Trittin,
       Göring-Eckardt, Roth und Özdemir hier, ob Steinbrück, Steinmeier, Kraft und
       Gabriel dort dazu bereit sind, ein gewisses Risiko einzugehen und noch in
       dieser Nacht zu erklären, eine Minderheitsregierung bilden zu wollen.
       
       Jawohl: noch in dieser Nacht! Nicht – wie die langweilige Ansage immer
       wieder lautet – am nächsten Tag, nach „gründlicher Analyse“ der Ergebnisse
       in den „Gremien“. Verschlüsselte Hinweise, nach denen zumindest die
       Leitungscrew der Sozialdemokraten dazu bereit ist, gab es genug.
       
       ## Bruch mit Stabilität
       
       Warum sonst in aller Welt lasen sie bei einem Parteifest ausgerechnet – mit
       verteilten Rollen – das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten vor, in dem
       politisch ja nur ein Satz bemerkenswert ist: „Etwas Besseres als den Tod
       werden wir schon finden!“ In der Tat: gleichgültig ob in der erstickenden
       Umarmung einer Großen Koalition oder auf den harten Bänken der Opposition:
       ohne Führung der nächsten Bundesregierung wird die SPD als Volkspartei
       gestorben, das Erbe von Wehner, Brandt und Schmidt unwiderruflich verspielt
       sein.
       
       Eine Minderheitsregierung zu führen aber wäre nicht nur ein Bruch mit der
       auf Stabilität versessenen politischen Kultur der Bundesrepublik, sondern
       vor allem auch eine Herausforderung, die eine geradezu diabolische
       Tüchtigkeit der Akteure erfordert. Da lässt sich von konservativen
       Politkünstlern einiges lernen: Die Flügel der Partei Die Linke, die eine
       Minderheitsregierung zu tolerieren hätte, hassen einander? Na und?
       
       Der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, der manche stabile
       Regierung führte, wusste es besser, als er den Begriff „Feind“ steigerte:
       „Feind – Todfeind – Parteifreund!“ Dazu eine kleine, belebende Prise vom
       Gift des Machiavellismus, vom italienischen Premier Giulio Andreotti – auch
       er führte viele Regierungen – unüberbietbar artikuliert: „Die Macht
       korrumpiert vor allem jene, die sie nicht haben.“
       
       Aber, so ein Letztes – nun wirklich ernst zu nehmendes – Bedenken: Ist
       derlei überhaupt zu verantworten? Die Antwort kann nur „Ja“ lauten, und
       zwar gerade deshalb, weil jene Sätze, die Max Weber den Politikern 1920 ins
       Stammbuch schrieb, so aktuell sind wie selten zuvor. Weber forderte
       bekanntlich, nicht nach Gesinnung, sondern nach sorgfältiger Abwägung aller
       Folgen, also nach Verantwortung zu handeln.
       
       ## Webers Mahnungen bleiben wahr
       
       Nun denn: Mit Blick auf ein sozial nicht noch stärker gespaltenes
       Deutschland und ein solidarisches Europa, auf Bürgerrechte (NSA) und auf
       die Demokratie im Moment ihres Übergangs in die Postdemokratie, wäre alles
       andere als eine rot-grüne Minderheitsregierung – egal ob von der Linken
       förmlich toleriert oder nicht – politisch und moralisch verantwortungslos.
       
       Auch weitere Mahnungen Webers bleiben wahr: PolitikerInnen müssen über
       beides, Leidenschaft und Augenmaß, verfügen. Eine tugendhafte Leidenschaft
       aber ist der „Mut“, der schon deshalb nicht mit „Tollkühnheit“ zu
       verwechseln ist, weil die Energie, die ihn auszeichnet, durch den Willen
       zur Gerechtigkeit und die Kraft der Besonnenheit bestimmt ist. Ihn in der
       Stunde der Entscheidung an den Tag zu legen, das genau ist Verwegenheit.
       
       2 Sep 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Micha Brumlik
       
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