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       # taz.de -- Sexuelle Gewalt in Indien: Nationales Sicherheitsproblem
       
       > Die Gruppenvergewaltigung im Dezember hat die indische Gesellschaft
       > aufgerüttelt. Am Samstag wird ein erstes Urteil erwartet.
       
   IMG Bild: Männer in Indien.
       
       DELHI taz | Der Sturm der Entrüstung war gewaltig. Wochenlang protestierten
       im Dezember Zehntausende Menschen aus allen Schichten der indischen
       Gesellschaft gegen die brutale Gruppenvergewaltigung einer Studentin in der
       Hauptstadt Neu-Delhi. Sechs Männer waren in einem fahrenden Bus über die
       junge Frau hergefallen. Sie hatten sie dabei so schwer misshandelt, dass
       sie an ihren Verletzungen starb.
       
       „Die Tat hat das Land geschockt und eine Protestwelle ausgelöst, wie sie
       Indien seit der Erlangung der Unabhängigkeit nicht gesehen hatte“, erinnert
       sich die Frauenrechtlerin Binalakshmi Nepram. Die Medien berichteten rund
       um die Uhr. Gleichzeitig boten sie die Plattform für eine offene und
       kontroverse Debatte über die Rolle von Frauen.
       
       Auch aufgrund des Drucks der Straße bemühten sich die Ermittler um eine
       schnelle Aufklärung des Falls. Alle mutmaßlichen Täter wurden gefasst und
       vor Gericht gestellt. Der Tod des Hauptangeklagten Ram Singh überschattete
       den Prozess im März. Wärter hatten ihn erhängt in seiner Zelle im
       Tihar-Gefängnis von Delhi gefunden. Angehörige erhoben schwere Vorwürfe
       gegen die Behörden. Diese sprachen von Selbstmord.
       
       ## Drei Jahre Jugendarrest
       
       Achteinhalb Monate nach der Vergewaltigung wird nun mit einem ersten Urteil
       gerechnet. An diesem Samstag soll das Strafmaß gegen den zur Tatzeit noch
       17-jährigen Angeklagten verkündet werden. Dessen Verfahren war abgetrennt
       worden. Im Falle einer Verurteilung muss er mit drei Jahren Jugendarrest
       rechnen. Seinen vier erwachsenen Mittätern droht im schlimmsten Fall die
       Todesstrafe. Die Urteile will das Sondergericht nach Angaben aus
       Justizkreisen Mitte September fällen.
       
       Nandini Rao vom Bürgerkollektiv gegen sexuelle Gewalt in Delhi beobachtet
       den Prozess kritisch. „Justiz und Politik hatten einen zügigen Prozess
       versprochen. Doch es wird seit Monaten verhandelt, von einem Schnellgericht
       kann keine Rede sein.“ Dabei hätte die Justiz mit dem Fall auch etwas gegen
       ihr schlechtes Image tun können. So sind landesweit mehr als 100.000
       Verfahren wegen sexueller Gewalt anhängig, viele davon seit Jahren.
       „Potenzielle Täter werden so nicht abgeschreckt“, findet die Aktivistin.
       
       Die Gesetze sind dagegen so gut wie nie zuvor. Ende Dezember hatte die
       Regierung den Forderungen der Demonstranten nachgegeben und ein Komitee mit
       der Prüfung der Rechtslage beauftragt. Die Gruppe unter Leitung des
       inzwischen verstorbenen Richters J. S. Verma legte einen Monat später einen
       Katalog aus Vorschlägen auf den Tisch, in dem nahezu alle bestehenden
       Probleme angesprochen werden – von der Diskriminierung Transsexueller über
       häusliche Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe bis hin zu sexuell
       motivierten Straftaten durch Polizisten und Soldaten im Dienst.
       
       „Dieses umfassende Dokument zeigt, wie Geschlechtergerechtigkeit in Indien
       aussehen könnte“, sagt Binalakshmi Nepram, deren Netzwerk Frauen aus
       Konfliktregionen im indischen Nordosten unterstützt. „Auch wenn nicht alle
       Vorschläge des Verma-Berichts in die neue Gesetzgebung eingeflossen sind,
       so hat die Regierung die Rechtslage doch erheblich zugunsten der Frauen
       verbessert.“
       
       ## Fast täglich neue Fälle
       
       Im Alltag allerdings gibt es kaum Fortschritte. Die Medien melden fast
       täglich neue Fälle von sexueller Gewalt gegen Frauen. Erst vor einer Woche
       erschütterte die Gruppenvergewaltigung einer Fotografin in Mumbai die
       Öffentlichkeit. Wenig später machte die Vergewaltigung einer Polizistin in
       Zentralindien Schlagzeilen. „Die Berichte kommen von überall“, sagt Nandini
       Rao. „Es ist herzzerreißend.“
       
       Nach offiziellen Angaben gab es in Indien im Jahr 2012 fast 25.000
       Vergewaltigungen. „Doch die Dunkelziffer liegt weit höher, denn viele Opfer
       zeigen die Verbrechen aus Scham oder Angst vor den Tätern nicht an“, weiß
       Aktivistin Nepram. Auch Ignoranz sei ein Problem. Immer wieder weigerten
       sich Polizisten, Fälle aufzunehmen. So sorgte im Januar der Selbstmord
       einer Frau im Bundesstaat Punjab für Entsetzen. Sie hatte zuvor vergeblich
       versucht, eine Vergewaltigung anzuzeigen.
       
       „Wir Frauen fühlen uns auf Indiens Straßen nicht sicher, wir können nicht
       wir selbst sein, uns nicht als gleichberechtigte Bürgerinnen eines
       demokratischen Landes fühlen“, beklagt Binalakshmi Nepram. „Aus diesem
       Grund fordern wir von der Regierung, Gewalt gegen Frauen als ein nationales
       Sicherheitsproblem einzustufen und mit der gebotenen Ernsthaftigkeit
       dagegen vorzugehen.“
       
       ## Patriarchale Struktur
       
       Veränderungen hängen aber nicht nur vom politischen Willen von Regierung,
       Justiz und Sicherheitsapparat ab. „Die Art und Weise, wie Frauen in der
       Gesellschaft behandelt werden, muss sich ändern“, weiß Minati Panda von der
       Delhier Nehru-Universität. Das müsse in den Familien beginnen, die vielfach
       noch immer Söhne gegenüber Töchtern bevorzugten.
       
       Diese Denkweise setze sich dann in Schule und Berufsleben fort. „Die
       patriarchale Struktur ist in Indien fest im privaten Umfeld, aber auch in
       Politik, Verwaltung und Wissenschaft verankert, sodass Männer in fast allen
       Bereichen den Gang der Dinge bestimmen“, sagt die
       Erziehungswissenschaftlerin.
       
       Nandini Rao hat aber auch eine positive Entwicklung beobachtet. „Nach der
       Vergewaltigung im Dezember waren viele junge Leute auf den Straßen, die bis
       dahin nichts mit Politik zu tun hatten“, sagt sie. „Sie haben begonnen,
       Fragen zu stellen – an Eltern, Lehrer und politisch Verantwortliche. „Sie
       wollen wissen, was mit diesem Land los ist. Sie wollen, dass sich etwas
       ändert. Und das ist ermutigend.“
       
       31 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Mentschel
       
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