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       # taz.de -- Neuer Roman von Daniel Kehlmann: Aus dem Labor des Lebens
       
       > Kehlmanns „F“ ist eine groß angelegte Dekonstruktion von Glaube,
       > Schicksal, Seele, Kunst und Familie. Das Buch funkelt vor Klugheit.
       
   IMG Bild: Es ist die Freiheit des Erzählers, der seine Motive wie die Felder eines Zauberwürfels verdreht
       
       Irgendein Schicksal hat jeder, ob es zu ihm passt oder nicht. Ohne
       Herkunft, Familie und Lebenslauf geht es nun mal nicht, so unbedeutend das
       in den meisten Fällen auch sein mag.
       
       Der Gedanke, auf nichts als ein paar dummen Zufällen und genetischen
       Vorgaben zu beruhen, ist zweifellos eine narzisstische Kränkung. Lieber
       hätte man es doch, frei zu entscheiden als autonomes Subjekt oder aber
       wenigstens einer soliden göttlichen Vorbestimmung Folge zu leisten.
       
       Das große F im Titel von Daniel Kehlmanns neuem Roman könnte für Freiheit
       stehen oder für Familie. Vor allem aber steht es für „Fatum“ und die Frage,
       welche Fakten und welche Fiktionen das Leben ausmachen. „Fatum, das große
       F“, sagt am Ende ein Schriftsteller, dessen größter Erfolg ein radikaler
       Ich-Auslöschungsroman mit dem Titel „Mein Name sei Niemand“ gewesen ist, zu
       seiner Enkelin. „Aber der Zufall ist mächtig, und plötzlich bekommt man ein
       Schicksal, das nie für einen bestimmt war. Irgendein Zufallsschicksal. So
       etwas passiert schnell.“ Aber ist ein „Zufallsschicksal“ überhaupt ein
       Schicksal – oder doch nur Zufall?
       
       „F“ ist eine literarische Versuchsanordnung aus dem Labor des Erzählers,
       denn ein Erzähler ist ja schließlich dazu da, Schicksale auszuteilen und zu
       kassieren, ganz wie es ihm beliebt. Doch auch er muss sich dabei an gewisse
       Regeln halten. Fünf Personen einer Familie sind es, die Kehlmann in fünf
       Kapiteln einzeln und im Verhältnis zueinander ins Bild setzt.
       
       Da ist zunächst der Vater und Bestsellerautor Arthur, der, wenn wir ihm
       zuerst begegnen, noch kein Bestsellerautor ist, sondern ein antriebsarmer
       Zyniker, der für die Schublade schreibt. Er hat drei Söhne: Martin, aus
       einer früheren Beziehung, und die eineiigen Zwillinge Eric und Iwan.
       Zwillinge sind, wenn es um Fragen der Identität und des Schicksals geht,
       unverzichtbar. Bei Kehlmann sind sie schon als Kinder ganz auf sich selbst
       konzentriert und „gefangen im Rätsel ihrer Verdoppelung“. Irgendwann kommt
       die Frage auf, wer von beiden eigentlich da wäre, wenn die Eizelle sich
       nicht geteilt hätte. Du oder ich oder ein Dritter?
       
       ## Der Hypnotiseur
       
       Spiegelungen, Verwirrungen, labyrinthische Situationen aller Art machen
       Kehlmann stets besondere Freude. Im fulminanten Eingangskapitel werden die
       drei Söhne zu Zeugen der Entstehung einer Biografie, als ihr Vater mit
       ihnen die Vorstellung eines Hypnotiseurs besucht.
       
       Bei ihm funktioniere das nicht, beteuert er, als er widerwillig der
       Aufforderung folgt, die Bühne zu betreten. Da oben scheint er, immer noch
       skeptisch, nicht zu bemerken, dass er längst in der Hand des Hypnotiseurs
       ist, dass er sich seine Wünsche entlocken lässt und den Auftrag erhält, sie
       einfach zu befolgen. Wenn er schreiben will, dann soll er es auch tun, und
       zwar erfolgreich. Wenn er weggehen will von der Familie, soll er eben
       gehen.
       
       Und so macht er es. Ohne es zu ahnen, folgt er den Grundsätzen, die ihm der
       Hypnotiseur eingeimpft hat. Ausgerechnet er, der rationale Skeptiker, dem
       Unabhängigkeit über alles geht, erfüllt ein festgelegtes Programm. Das
       Bewusstsein, so trickreich es auch agiert, kann sich eben nicht selbst
       begreifen. Das immerhin weiß er und schreibt es in seinem Erfolgsbuch. Ja,
       schlimmer noch, es gibt kein Bewusstsein: „Im Gehirn wohnt niemand. Die
       Augen sind keine Fenster. Da sind Nervenimpulse, aber niemand liest sie,
       zählt sie, übersetzt sie, denkt über sie nach. Such, solange du willst,
       niemand ist zu Hause. Die Welt ist in dir, und du bist nicht da.“
       
       Es ist bestimmt kein Zufall, dass Kehlmann den Besuch beim Hypnotiseur auf
       das Orwell-Jahr 1984 verlegt. Die nächsten drei Kapitel spielen dann alle
       an einem einzigen, zufälligen Tag, dem 8. August 2008, der dreimal, aus der
       wechselnden Perspektive der nun erwachsenen Söhne, durchlebt wird.
       
       ## Priester, Finanzberater, Kunstfälscher
       
       Martin ist zu einem dicken, schwitzenden Priester geworden, der zwar die
       von ihm verlangten Rituale zuverlässig absolviert und auch die Absolution
       erteilt, dem es aber nicht gelingen will, an Gott zu glauben. Ein
       Priester-Darsteller also. Priester wurde er vor allem deshalb, weil es bei
       ihm in der Jugend mit den Mädchen nicht recht klappte. (Überhaupt spielen
       Frauen in diesem Buch nur eine marginale Rolle. Für sie steht das F des
       Titels jedenfalls nicht. Seltsam – als ob die Liebe nicht ein
       Zentralbestand der Schicksalsfrage wäre.) Martins Leidenschaft gilt
       stattdessen dem Zauberwürfel, der in den 80er Jahren einmal große Mode war.
       Seither nimmt er an nationalen Wettbewerben teil, ist aber auch da
       allenfalls der Zweitbeste.
       
       Eric, der erste Zwilling, ist ein Finanzberater geworden, der sich mit den
       Vermögen seiner Kunden so gründlich verspekuliert hat, dass davon nichts
       mehr übrig ist und er nur noch mit Lügen und leeren Versprechungen
       operiert. Nebenbei jongliert er mit mehreren Geliebten, Ehefrau und
       Tochter, aber das alles erreicht ihn schon nicht mehr. Ihn rettet
       ausgerechnet die Finanzkrise, denn wenn alles Geld überall weg ist, dann
       ist ihm nicht mehr viel vorzuwerfen.
       
       Iwan schließlich, Erics Spiegelbild, aber schwul, handelt mit Kunst. Ihn
       einen Kunstfälscher zu nennen wäre untertrieben, denn was er fälscht, sind
       weniger die Bilder des Malers, den er als Kunsthistoriker groß gemacht hat,
       als dessen gesamtes Künstlertum. Dass in Wirklichkeit er die Bilder des
       berühmten Heinrich Eulenböck malt, ginge ja noch an. Dass er die selbst
       gemalten Bilder auch noch mit einer Dissertation zum Thema „Heinrich
       Eulenböck – Von der Ironie der Tradition zum Realismus der Ironie“ bedenkt,
       ist schon zweifelhafter. Dass er nach dessen Tod aber auch die
       Echtheits-Expertisen ausstellt, Auktionen beliefert, den Stiftungsvorstand
       übernimmt und den Nachlass verwaltet – das ist raffinierter als alle
       Finanzbetrügereien seines Zwillingsbruders.
       
       Alle drei Brüder leben von falschen Vorspiegelungen, falschen Wechseln und
       geborgten Identitäten. Davon, dass der Unterschied zwischen Glauben und
       Nicht-Glauben nur ein gradueller ist. Von der Behauptung, dass da etwas
       sei, wo in Wirklichkeit nichts ist. Von Wahrheiten, die sich wie Lügen
       anfühlen und umgekehrt. Von Fälschungen, die keine Fälschungen sind,
       sondern authentische Originale. Und im Übrigen, so Iwan: „Alle Museen sind
       voll von Fälschungen, na und? Die Herkunft von allem und jedem in dieser
       Welt ist unsicher, bei der Kunst ist kein Zauber im Spiel, und keines
       Engels Flügel hat die großen Werke gestreift.“ In Variation auf Brecht
       könnte man sagen: Was ist schon ein Kunstraub gegen eine Museumsgründung?
       Bilder dort hineinzuschmuggeln ist allemal lukrativer, als sie zu stehlen.
       
       ## Was lässt uns die eigene Mittelmäßigkeit ertragen?
       
       „F“ ist eine groß angelegte Dekonstruktion von Dingen wie Glaube,
       Schicksal, Seele, Kunst, Familie. Eine eingeschobene Erzählung Arthurs
       führt den Familienroman ad absurdum, indem er die Vorfahrenreihe immer
       weiter zurückgeht in kurzen, biografischen Stenogrammen, die zu nichts
       führen als von Generation zu Generation zum Tod der Protagonisten.
       
       Dabei ist „F“ streng genommen durchaus ein Familienroman. Solche
       Widersprüche kultiviert Kehlmann gern; mit viel Witz und Raffinesse führt
       er immer wieder in die Irre und doch genau ins Ziel. Trotz all der
       Bodenlosigkeit der Existenz, die er in spielerischer Eleganz vorführt, ist
       „F“ kein nihilistisches, kein verzweifeltes Buch, sondern eines, das von
       falschen Vorstellungen befreit und schließlich auch das Wahre und das
       Falsche als Illusionen vorführt. Auf diesem Boden kann dann tatsächlich
       eine Art Freiheit gedeihen: Es ist die Freiheit des Erzählers, der seine
       Motive wie die Felder eines Zauberwürfels verdreht und der die
       Erzählstränge wie die Doppelhelix der DNA miteinander verbindet.
       
       Hinter der Frage, wie Biografien zustande kommen, steht aber noch eine ganz
       andere und vielleicht viel schwierigere: Was ist es, was uns die eigene
       Mittelmäßigkeit ertragen lässt? Warum macht man weiter, auch wenn man
       begriffen hat, dass es auf einen nicht ankommt? Oder, mit dem Kunstfälscher
       Iwan gefragt: „Was für Menschen sind es, die alles auf eine Karte setzen,
       ihr Leben dem Schaffen verschreiben, das Risiko der großen Wette eingehen
       und dann, Jahr für Jahr, nichts von Bedeutung zustande bringen?“ Dabei ist
       er selbst genau so einer, und es sind allenfalls die Zufälle, die sein
       Leben aus der Bahn werfen. Das Schlusskapitel, aus der Perspektive von
       Arthurs Enkelin erzählt, bringt noch einmal neue, überraschende Wendungen.
       
       „F“ ist ein Buch von funkelnder Klugheit, listig, boshaft und doch voller
       Freundlichkeit: ein großer, unterhaltsamer Roman über die unlösbaren Rätsel
       des Lebens. Und wieder ist es Iwan, der die entscheidenden Sätze
       formuliert: „Du musst mitspielen, das ist der ganze Trick. Lügen musst du.
       Du denkst, die Leute durchschauen dich, aber keiner durchschaut irgendwen.
       […] Überleg dir genau, wer du sein möchtest. Frag dich, was der, der du
       sein möchtest, tun würde. Und dann tu genau das.“ Natürlich, so viel darf
       verraten werden, geht Iwan trotzdem – oder gerade deshalb – zugrunde. Aber
       das gilt ja für alle Menschen.
       
       31 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jörg Magenau
       
       ## TAGS
       
   DIR Familie
   DIR Buch
   DIR Zwillinge
   DIR Schwerpunkt Nationalsozialismus
   DIR Schriftsteller
       
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