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       # taz.de -- Politikerinnen über NSU-Ausschuss: „Man hielt sich das rechte Auge zu“
       
       > Petra Pau (Linke) will V-Leute und den Verfassungsschutz abschaffen. Eva
       > Högl (SPD) hält eine Radikalreform für falsch. Ein Streitgespräch.
       
   IMG Bild: „Es war ein strukturelles Versagen.“ – Auf Papier in diesen Aktenordnern niedergeschrieben
       
       taz: Frau Pau, Frau Högl, kam Ihnen das nicht manchmal komisch vor: Fünf
       Fraktionen, von Union bis Linkspartei, ziehen an einem Strang? 
       
       Petra Pau: Das lag auch daran, dass die Fraktionen Abgeordnete in den
       NSU-Untersuchungsausschuss geschickt haben, die in der Lage waren, die
       Parteipolitik zurückzustellen. Aber manchmal gab es durchaus Druck aus den
       eigenen Reihen. Nach einer ARD-Dokumentation habe ich neulich E-Mails
       innerparteilicher Sittenpolizisten bekommen, die meinten, ich müsse den
       Klassenkampf hervorheben …
       
       … und nicht Einigkeit mit der SPD oder gar der Union demonstrieren, wie es
       in der Doku zu sehen war. 
       
       Pau: In diesem Ausschuss hätte ich Streit für völlig unangemessen gehalten.
       Das Vertrauen in den Rechtsstaat ist tief erschüttert, und das nicht nur in
       der türkischstämmigen Community. Wenn wir da engstirnig parteipolitische
       Ziele verfolgt hätten, hätte das auch die Betroffenen des NSU-Terrors neu
       traumatisiert.
       
       Eva Högl: Ich gebe zu: Es gab am Anfang Skeptiker, auch in unserer
       Fraktion. Weil wir Untersuchungsausschüsse bisher vor allem als
       Kampfinstrument der Opposition kannten. Aber wir waren uns einig, dass eine
       Polarisierung beim Thema rechtsextremer Terror völlig falsch wäre. Nur
       durch eine enge Zusammenarbeit über die Parteigrenzen hinweg konnten wir so
       viel an Aufklärung leisten.
       
       Wer ist Schuld daran, dass der NSU mehr als zehn Jahre unentdeckt blieb? 
       
       Högl: Es waren nicht kleine Versäumnisse oder Fehler, hier und da eine
       Panne. Es war ein strukturelles Versagen. Rechtsextremismus wurde von
       Nürnberg bis Hamburg, von Köln bis Rostock flächendeckend verharmlost. Er
       wurde über Jahre und Jahrzehnte nicht als richtige Gefahr für unsere
       Demokratie gesehen.
       
       Pau: Es war ein Staatsversagen. Aber auch ein Versagen der Politik und der
       kritischen Öffentlichkeit. Denn die Betroffenen haben ihren Verdacht, dass
       es sich bei diesen Taten um rassistische Morde und Anschläge handelt, ja
       versucht nach außen zu tragen. Es hat ihnen niemand zugehört.
       
       Wenn alle versagt haben, wer ist denn am Ende noch verantwortlich? Jeder
       und keiner? 
       
       Högl: Das ist eine Gefahr. Und so sehr der Kampf gegen den
       Rechtsextremismus die gesamte Gesellschaft angeht, sind es natürlich die
       Sicherheitsbehörden, die die Bürgerinnen und Bürger vor schweren Straftaten
       schützen sollen.
       
       Pau: Hauptversager war für mich der Verfassungsschutz. Und deswegen sollte
       er abgeschafft werden. Ich werde nie wieder die Formulierung verwenden: Die
       Geheimdienste waren auf dem rechten Auge blind. Denn aus den Akten geht
       klar hervor, dass der Verfassungsschutz sehr wohl wusste, was sich im
       Bereich des Rechtsextremismus entwickelte …
       
       Högl: … man hielt sich das rechte Auge selber zu!
       
       Pau: Genau. Man hätte nicht blind sein müssen. Die Informationen, die die
       Geheimdienste hatten, sind nie übereinander gelegt worden. Meiner Meinung
       nach ist auch das Gesetz gebrochen worden. Denn die
       Strafverfolgungsbehörden müssen informiert werden, wenn schwere Straftaten
       drohen. Das ist nie geschehen, mit der pauschalen Begründung
       „Quellenschutz“.
       
       Frau Högl, warum wollen Sie am Verfassungsschutz festhalten? In Thüringen
       wie auch im Bund hat er beim NSU keine gute Figur gemacht … 
       
       Högl: … das ist viel zu lasch formuliert. Er hat versagt. Der
       Verfassungsschutz hätte die Gefahr erkennen können, ja müssen. Da teile ich
       die Einschätzung von Petra Pau. Ich ziehe nur eine andere Schlussfolgerung.
       
       Und zwar? 
       
       Högl: Wir als SPD wollen den Verfassungsschutz beibehalten, aber nur wenn
       er grundlegend reformiert wird. Ich habe mir viele Gedanken gemacht und
       keine Alternative gefunden. Wir brauchen so etwas wie den
       Verfassungsschutz. Man kann seine Aufgaben nicht einer
       zivilgesellschaftlichen Organisation übertragen, wie es die Linkspartei
       will. Wir brauchen eine staatliche Behörde, die unsere Verfassung und uns
       schützt. Sie braucht aber eine ganz andere Struktur, anderes Personal und
       eine stärkere Kontrolle durch das Parlament.
       
       Frau Pau, wer soll den Job des Verfassungsschutzes übernehmen? Die Antifa? 
       
       Pau: Da haben Sie unsere Vorschläge falsch verstanden. Ich kenne das
       Grundgesetz, und das sieht in der Tat eine Institution vor, die sich mit
       dem Schutz der Verfassung befasst. Allerdings steht dort nicht, dass dies
       in Form eines Geheimdienstes zu organisieren ist. Deshalb schlagen wir eine
       Koordinierungsstelle zur Beobachtung neonazistischer, rassistischer und
       anderer menschenfeindlicher Bestrebungen vor – und zwar unter dem Verzicht
       auf geheimdienstliche Mittel. Sofort beendet werden sollte das unsägliche
       V-Leute-Wesen.
       
       Högl: Ich gebe zu: Nach all dem, was wir in eineinhalb Jahren im Ausschuss
       gehört haben, ist mir diese Forderung nicht unsympathisch. Häufig hat nicht
       der Verfassungsschutz die Vertrauensleute geführt, sondern die V-Leute
       haben den Verfassungsschutz an der Nase herumgeführt. Wir haben das ganze
       Elend aufgeblättert bekommen.
       
       Und trotzdem sagen Sie: Es geht nicht ohne V-Leute? 
       
       Högl: Wir brauchen Informationen aus dem Inneren der Neonazi-Szene. Was
       wäre denn die Alternative? Verdeckte Ermittler? Es ist ein jahrelanger
       Prozess, Beamten eine falsche Biografie zu verpassen und sie unter Legende
       einzuschleusen. Natürlich sind V-Leute keine vorbildlichen Menschen, sie
       sind ein Teil der Szene. Aber wir sind nach langem Überlegen zu dem
       Ergebnis gekommen, dass wir V-Leute leider weiter brauchen. Wir müssen sie
       aber anders auswählen, führen und vor allem besser kontrollieren.
       
       Frau Pau, wie wollen Sie ohne V-Leute an die abgeschotteten Zirkel
       rankommen? Niemand verhandelt Terrorpläne öffentlich. 
       
       Pau: Neonazis haben sehr wohl immer wieder sehr offen diskutiert, was sie
       vorhaben. Es gab und gibt frei zugängliche Anleitungen zu Mord und
       Totschlag. Auch auf Neonazikonzerten wird offen zu rassistischer Gewalt
       aufgerufen. Um das zu erkennen, brauche ich keinen V-Mann und auch keine
       verdeckten Ermittler.
       
       Wen würden Sie denn solche Konzerte beobachten lassen? Es ist ja nicht
       immer ein Undercover-Journalist vor Ort, der heimlich filmt, wie Thomas
       Kuban es jahrelang getan hat. 
       
       Pau: Ich erwarte, dass die Behörden gegen solche Veranstaltungen vorgehen.
       Wenn Mord und Totschlag propagiert werden, ist das strafbar.
       
       Högl: Das ist doch die entscheidende Frage: Wer bekommt die Aufrufe zu Mord
       und Totschlag mit? Wer schleicht sich in die Konzerte ein? Wer sitzt bei
       Neonazi-Veranstaltungen und Treffen in den Hinterzimmern dabei? Das
       beantworten Sie nicht.
       
       Pau: Wenn die örtliche Polizei mitbekommt, dass auf einem Konzert strafbare
       Texte gegrölt werden, muss sie sofort einschreiten. Punkt. Bisher haben
       V-Leute mitunter sogar selbst solche Konzerte organisiert und dafür
       gesorgt, dass niemand ihre Kreise stört.
       
       Högl: Wenn wir den Verfassungsschutz samt V-Leuten abschaffen, müssten wir
       die Aufgabe, extremistische Bestrebungen zu beobachten, der Polizei
       übertragen. Ich wäre außerordentlich skeptisch, polizeiliche Kompetenzen
       weit in das Vorfeld möglicher Straftaten auszudehnen. Dann sind wir auf dem
       Weg zu einer Geheimpolizei.
       
       Warum wird im Zusammenhang mit dem NSU-Ausschuss vor allem über den
       Verfassungsschutz diskutiert? Die Fahndung nach abgetauchten
       Neonazi-Straftätern ist ebenso Aufgabe der Polizei wie die Ermittlung bei
       Morden. 
       
       Pau: Auch die Polizeien der Länder und das BKA haben versagt. Und das haben
       wir im Abschlussbericht des Ausschusses auch so benannt.
       
       Högl: Es gab bei den Ermittlungen routiniert angewandte Vorurteils- und
       Verdachtsstrukturen. Die Polizei hat einen ermordeten Türken in einem
       Imbissstand aufgefunden und sofort gedacht: Der hat doch was mit
       Kriminalität zu tun …
       
       Pau: … nennen Sie das ruhig institutionellen Rassismus!
       
       Högl: Man kann das auch Rassismus nennen. Wir müssen nur aufpassen, dass
       wir keine Abwehrreflexe in den Reihen des Polizeiapparats provozieren. Es
       hilft uns nichts, wenn die Polizei sagt: „Was wollen diese blöden
       Abgeordneten im Bundestag von uns? Wir sind doch keine Rassisten!“ Einen
       Mentalitätswandel kann es nur aus den Behörden heraus geben.
       
       Pau: Ich unterstelle keinem der an den Ermittlungen beteiligten Polizisten,
       ein Rassist zu sein. Aber diese Ermittlungen hatten deutlich rassistische
       Züge. Man muss sich darauf verlassen können, dass frei von Vorurteilen
       ermittelt wird.
       
       Högl: An diesem Punkt sind wir uns ja einig. Elf Jahre wurde in alle
       erdenklichen Richtungen ermittelt, nur nicht in Richtung Rechtsextremismus.
       So etwas darf nie wieder passieren.
       
       29 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolf Wiedmann-Schmidt
       
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