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       # taz.de -- Özcan Mutlu will's direkt: Im Dauerlauf
       
       > In Mitte haben die Grünen eine echte Chance, neben Kreuzberg ein zweites
       > Direktmandat zu erobern. Özcan Mutlu soll es gegen SPD-Frau Eva Högl
       > holen.
       
   IMG Bild: Mutlu heißt glücklich: Ob das auch noch für den 22. September gilt?
       
       „Özcan, warte mal!“ Nur widerwillig folgt Özcan Mutlu der Bitte seines
       Wahlkampfhelfers, bleibt stehen, bis drei zurückgefallene Mitläufer seiner
       Jogginggruppe aufgeholt haben. Die Ungeduld passt eigentlich nicht zu
       einem, der als grüner Bildungspolitiker immer wieder sagt, das Schulsystem
       dürfe keinen zurücklassen. Aber Mutlu, 45, will weiter, an diesem Sonntag
       am Monbijoupark in Mitte und überhaupt.
       
       Keine vier Wochen mehr, dann wird er gewählter Abgeordneter im Deutschen
       Bundestag sein, er steht auf dem sicheren Platz zwei der
       Grünen-Landesliste, über die die Partei bislang ihre Leute in den Bundestag
       schickt. Doch Mutlu reicht das nicht. Mutlu will sein Mandat selbst
       erkämpfen, er will den Wahlkreis Mitte gewinnen, er will das bundesweit
       erst zweite Direktmandat für die Grünen – und für sich.
       
       Wahlkreis, das ist eine Bezeichnung, die nicht ganz zutrifft bei jenem
       Gebiet aus den Hochglanzbauten des Bundestags, den noblen Lofts nördlich
       der Oranienburger Straße und den Arme-Schlucker-Gegenden im Wedding. Zu
       gegensätzlich ist das für einen so runden Begriff. Doch auf der Liste des
       Bundeswahlleiters ist es eine Einheit mit der laufenden Nummer 075.
       
       ## Einer der Beliebtesten
       
       Die Grünen waren schon vor vier Jahren nahe dran, hier zu gewinnen. Man
       könnte auch sagen: Sie haben es verbaselt, obwohl einer ihrer Beliebtesten
       und Besten Kandidat war: Wolfgang Wieland, der frühere Fraktionschef im
       Abgeordnetenhaus. Doch Partei und Wieland verpassten es, ihren Wählern
       ausreichend klar zu machen, dass sich auch eine Erststimme für sie lohnt,
       dass sie auch außerhalb von Friedrichshain-Kreuzberg und mit anderen Leuten
       als Christian Ströbele Wahlkreise und Direktmandate gewinnen können.
       
       Das Ende vom Lied: Die Grünen holten zwar die meisten Zweitstimmen, die
       über die Zusammensetzung des Bundestags entscheiden. Doch bei den
       Erststimmen für den Direktkandidaten lagen sie nicht nur deutlich hinter
       der SPD, sondern auch noch hinter der CDU. Das hätte bei einem so populären
       Mann wie Wieland nicht sein dürfen. Umso weniger, als sich bei der Wahl zum
       Landesparlament zwei Jahre später zeigte, dass Grüne in Mitte tatsächlich
       siegen können. Sie gewannen erstmals eines der sechs dortigen Mandate klar
       und verpassten zwei weitere nur knapp, eins hauchdünn mit 77 Stimmen.
       
       Entsprechend groß war der Andrang, als die Grünen in Mitte Ende 2012 ihren
       Direktkandidaten aufstellten: vier Männer und eine Frau bewarben sich. Wer
       sich durchsetzte, war Mutlu. Er, der lange in Kreuzberg Bezirks- und
       Landespolitik machte, Wahlkämpfe fürs Abgeordnetenhaus führte und gewann,
       sah sich 2011 von der dort dominierenden Parteilinken weggemobbt. Zu wenig
       dogmatisch sei er denen gewesen. Er zog nach Mitte um und schloss sich auch
       dem dortigen Grünen-Kreisverband an. Bei führenden Köpfen der Kreuzberger
       Grünen klingt das anders: Es habe Unzufriedenheiten mit Mutlu gegeben, er
       habe schlicht keine Mehrheit bekommen, als er sich vor der
       Abgeordnetenhauswahl 2011 erneut als Direktkandidat bewarb.
       
       ## Persönliche Revanche
       
       Offen würde Mutlu es vor allem in Wahlkampfzeiten nicht sagen. Doch gewinnt
       er am 22. September den Bundestagssitz, wäre das nicht nur ein Riesenerfolg
       für die Grünen als Partei. Es wäre auch seine persönliche Revanche, den
       Kreuzbergern, die ihn dort nicht mehr wollten, ihr Alleinstellungsmerkmal
       mit dem einzigen grünen Direktmandat genommen zu haben.
       
       Vielleicht erklärt das seinen Biss, der ihn beim Laufen so vorpreschen
       lässt. Dieses gemeinsame Joggen ist eines seiner
       Mutlu-zum-Anfassen-Angebote. Man kann mit ihm laufen, man kann ihn zum
       Kochen einladen, man kann mit ihm im eigenen Kiez spazieren gehen.
       
       An diesem Sonntag rennen nach einem Grünen-Kinderfest gut 20 Frauen und
       Männer in grünen T-Shirts vom Monbijoupark an der Oranienburger Straße los,
       vorbei an der Wohnung der Kanzlerin am Pergamonmuseum. Unter den Linden an
       einer Kreuzung muss die Gruppe warten. Mutlu versucht, Touristen auf der
       anderen Straßenseite zu animieren, die Welle zu machen, la Ola. Es
       funktioniert, Applaus begleitet die Gruppe.
       
       „Jetzt laufen wir gleich durchs SPD-Fest“, freut sich einer der Mitläufer
       kurz vor dem Brandenburger Tor. Doch die Sozis haben bei ihrer
       150-Jahr-Feier schon Schluss gemacht. „Die Högl hat ’Schachmatt‘
       getwittert“, erzählt ein anderer, was große Belustigung auslöst. „Die
       Högl“, das ist Eva Högl, Mutlus 44-jährige und damit fast gleich alte
       Konkurrentin von der SPD. Sie hat den Wahlkreis vor vier Jahren gewonnen,
       und die Grünen interpretieren ihre Botschaft als Stoßseufzer einer
       ermatteten Kandidatin.
       
       „Quatsch“, sagt Eva Högl ein paar Tage später. „Schachmatt“ sei ein Lied
       von Roland Kaiser, der beim SPD-Fest auftrat. Da habe sie doch begeistert
       mitgesungen. Und wie zum Beweis zitiert sie textsicher den Refrain:
       „Schachmatt, durch die Dame im Spiel“. Wenn man nun weiter deuteln will,
       kann man das auch auf Mutlu und sie münzen.
       
       ## Gute Kontakte
       
       Högl ist nicht minder viel unterwegs als ihr grüner Konkurrent und an
       diesem Tag unter anderem bei der umtriebigen Ärztin Jenny De la Torre, die
       seit vielen Jahren Obdachlose behandelt. Die Grünen versuchen gern zu
       vermitteln, Högl kümmere sich nicht intensiv um den Wahlkreis – ihr
       Versuch, damit umzugehen, dass Högl über Monate überregional enorme
       Medienpräsenz hatte: als SPD-Sprecherin im NSU-Untersuchungsausschuss des
       Bundestags. Der gute Kontakt mit der Ärztin zeigt jedoch eher, dass Högl
       sie und ihr renommiertes Projekt schon länger kennt.
       
       Auch sonst ist es schwer, Högl bei Kiezthemen kalt zu erwischen. An diesem
       Tag hat sie ihren SPD-Bundestagskollegen Karl Lauterbach mitgebracht, der
       nach der Wahl Bundesgesundheitsminister sein könnte. De la Torre freut sich
       – umso mehr, weil Lauterbach, selbst Arzt, verspricht, für Spenden für ihre
       Stiftung zu werben.
       
       Für die Grünen sei der Sieg in Mitte viel wichtiger als für die SPD, sagt
       Mutlu beim Laufen, denn die Sozialdemokraten hätten ja schon so viele
       Direktmandate. Bundesweit stimmt das – aber nicht in Berlin. Högl kämpft
       nicht nur für ihren Sieg, sondern auch gegen eine Riesenblamage ihres
       Landesverbands. Ihr Wahlkreis ist außer Pankow der einzige, in dem die SPD
       eine wirkliche Chance hat zu gewinnen.
       
       ## Ein harter Kampf
       
       Bei einer Niederlage wäre Högl zwar trotzdem im Bundestag, weil sie die
       Spitzenkandidatin auf der SPD-Landesliste ist. Während aber die Grünen auf
       einen erneuten Sieg in Kreuzberg bauen können, stünde die SPD blank da – in
       einem Wahlkreis, den sie 2005 noch mit fast 20 Prozentpunkten Vorsprung
       gewann. Aber so weit ist es noch nicht, und Högl macht nicht nur an diesem
       Nachmittag nicht den Eindruck, schachmatt zu sein. „Das bleibt ein harter
       Kampf“, sagt sie, „da zählt jede Stimme.“
       
       Entscheidend wird sein, ob Mutlu einlösen kann, was er seinen grünen
       Parteifreunden bei seiner Nominierung versprochen hat: dass er die
       verschiedenen Gruppen in diesem so heterogenen Wahlkreis ansprechen kann.
       Dass er die bildungsnahe Klientel als Schulpolitiker genauso erreicht, wie
       er jene abertausend Migranten ins Wahllokal holt, die zuletzt nicht
       mitstimmten oder überhaupt noch nie.
       
       Bei den Migranten setzt Mutlu vorrangig auf seine Bekanntheit und seinen
       türkischen Namen. Der bedeutet übersetzt „glücklich“. Flugblätter auf
       Türkisch gebe es nicht, in diesen Tagen soll aber im Schaufenster vieler
       türkischer Bäckereien sein Plakat kleben – „das bringt mehr als draußen an
       der Laterne, das zeigt, dass sich der Laden mit mir identifiziert“.
       
       Mutlus zweite Zielgruppe, die Bildungsbürger, findet er einige Tage nach
       der Joggingrunde beim Schulfest des Gymnasiums Tiergarten vor, das vor
       einem Jahr aus einer Fusion entstanden ist. Mutlu ist schnell im Gespräch
       mit den Leuten, da geben er und Högl sich nichts. Schon den Vormittag hat
       er in einer Schule verbracht, einem Oberstufenzentrum, wo er von seinen
       persönlichen Erfahrungen mit Diskriminierung erzählte.
       
       ## Schäfchen im Trockenen
       
       Nach der Diskussion mit den Schülern schüttelt er im Auto immer noch den
       Kopf. Denn eine Schülerin lehnte rundheraus die Millionärssteuer ab, die
       die Grünen fordern. „Das ist doch unfair – die haben es geschafft, und dann
       wird es ihnen wieder weggenommen“, sagt sie. „Mensch, es geht doch um
       euch“, erwidert Mutlu, „ich hab meine Schäfchen im Trockenen, aber eure
       Zukunft, eure Rente, das ist absolut ungewiss.“
       
       Es gibt natürlich noch andere Kandidaten im Wahlkreis. Da ist etwa der
       Landeschef der Linkspartei, Klaus Lederer. Der CDU-Bewerber Philipp
       Lengsfeld, Sohn der früheren Bundestagsabgeordneten Vera Lengsfeld, wollte
       eigentlich Kandidat in Pankow werden, fiel aber bei der dortigen CDU durch.
       Das Straßenbild jedoch dominieren die Gesichter von Högl und Mutlu.
       
       Auch als sich die grüne Laufgruppe sich wieder ihrem Ausgangspunkt am
       Monbijoupark nähert, ist die SPD-Frau immer wieder mit ihren Plakaten
       präsent. Mutlu und sein Gefolge scheint das nicht zu stören: „So seh’n
       Sieger aus, schalalalala“, stimmen sie gleich zweimal an. Högl meinen sie
       damit jedenfalls nicht.
       
       28 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Alberti
       
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