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       # taz.de -- Wahlkampf in Stuttgart: Wenn Grüne Betreuungsgeld wollen
       
       > In Stuttgart konkurriert der Grünen-Chef Özdemir zur Bundestagswahl mit
       > einem modernen CDUler. Es geht darum, wer die Mitte dominiert.
       
   IMG Bild: Kommt zu spät: Cem Özdemir am Bauzaun von Stuttgart 21
       
       STUTTGART taz | Manchmal ist es nicht leicht, Chef einer Volkspartei zu
       sein. Cem Özdemir, 47, blickt aufmerksam zu der älteren Dame mit rotem
       Kurzhaarschnitt hinüber, die sich jetzt das Mikrofon nimmt.
       
       Es ist heiß in der renovierten Scheune im Stadtteil Degerloch, es riecht
       nach alten Holzbalken, Özdemir hat längst sein Jackett ausgezogen. Vor ihm
       sitzen 90 Zuhörer, gediegen bürgerliches Publikum, Grünen-affin, die Herren
       im Kurzarmhemd, die Frauen in schlichten, gebügelten Blusen. Fragerunde.
       
       „Warum“, fragt die Dame also, und ihre Stimme zittert nur anfangs. „Warum
       propagiert ihr Kitas für alle Kinder?“ Sie redet sich in Rage. Viele junge
       Mütter fänden ihren Job eben nicht prickelnd und würden sich lieber um ihr
       Kleinkind kümmern, da wäre doch eine Entschädigung vom Staat nur
       angebracht. Die Dame ruft: „Gebt den jungen Eltern diese Freiheit!“
       Kräftiger Applaus, zum ersten Mal an diesem Dienstagabend.
       
       An der Stelle ist angebracht kurz innezuhalten. Die Grünen, das ist die
       Partei, die sich für fortschrittlich hält. Eine Dame, die später sagen
       wird, dass sie selbstverständlich grün wählt, fordert bei einer
       Veranstaltung des Grünen-Ortsverbandes ein Betreuungsgeld, so, wie es die
       CSU in Bayern will. Und alle klatschen.
       
       ## Grüne für Betreuungsgeld
       
       Herzlich willkommen im Wahlkreis Stuttgart I, wo Grüne anders ticken als im
       Rest der Republik. Özdemir sitzt hier und hat Schweißperlen auf der
       Oberlippe, weil er ihn gewinnen will. Deshalb erklärt er ausführlich, dass
       er jeden Lebensentwurf respektiert, auch den der Fragerin, dass er aber die
       Finanzierung von Kitas wichtiger findet.
       
       Wie gesagt, es ist nicht leicht.
       
       Degerloch liegt in Halbhöhenlage, ein Wort, das so nur in Stuttgart
       existiert und in Immobilienanzeigen mit „HHL“ abgekürzt wird. Es bezeichnet
       die exklusive Wohnlage an den Hängen über dem Stuttgarter Kessel. An
       Fachwerkhäusern ranken Weinreben, eine Kirchenglocke läutet, die
       Bürgersteige sind sauber gekehrt. Hier leben die aufgeklärten
       Bürgermilieus, die sich bei der Landtagswahl 2011 enttäuscht von der
       Mappus-CDU abgewandt und den Grünen ihren historischen Sieg in
       Baden-Württemberg ermöglicht hatten.
       
       Inzwischen ist viel passiert. Der Ministerpräsident heißt Kretschmann, der
       Oberbürgermeister Kuhn, die Grünen sind Regierungspartei. Und sie haben
       Sympathien verloren durch die wirre Schulpolitik, durch Stuttgart 21 und
       ein paar andere Dinge. Der Reiz des Neuen ist dem Alltagsgeschäft gewichen.
       Und, Özdemir bekommt das zu spüren, viele in der Scheune sehen das nach
       links gerückte Bundesprogramm skeptisch.
       
       ## Knapp 30 Prozent der Erststimmen
       
       Er muss sich für die Erhöhung des Spitzensteuersatzes rechtfertigen, für
       die Abschaffung des Ehegattensplittings und für die Vermögensabgabe. Wer in
       Degerloch ein Einfamilienhaus besitzt, ist automatisch Millionär. Gewänne
       Özdemir hier, wäre es das zweite grüne Direktmandat der Republik. Er könnte
       sich in der nächsten Fraktion neben Christian Ströbele setzen.
       
       Stuttgart neben Kreuzberg, jung neben alt, neue Bürgerlichkeit neben linkem
       Kernmilieu. Von dieser Symbolik kann Özdemir minutenlang schwärmen, und
       natürlich stärkte ein Sieg auch seine Position in dem Machtpoker nach der
       Wahl. Doch in Stuttgart I geht es um mehr als einen Karriereschub für den
       Grünen-Chef. Ganz vorn steht zum Beispiel die Frage, wer eigentlich
       hegemoniefähig ist in der bürgerlichen Mitte, also die Vorherrschaft hat.
       Die Grünen oder die CDU?
       
       Sind die Grünen in der Lage, den Schwarzen auf Augenhöhe Konkurrenz zu
       machen, als, nun ja: Volkspartei? Und wenn ja, mit welchem Konzept von
       Bürgerlichkeit? Bei der Bundestagswahl 2009 hat Özdemir knapp 30 Prozent
       der Erststimmen geholt, sein Gegner von der CDU lag gerade mal viereinhalb
       Prozentpunkte vorn. Dieses Mal will er den Wechsel schaffen.
       
       Stefan Kaufmann, 44, bestellt im Grand Café Planie am Karlsplatz einen
       Milchkaffee und eine mit Schokoguss überzogene Banane. Er ist der
       Platzhirsch, er muss sein Direktmandat gegen den grünen Angriff
       verteidigen.
       
       Kaufmann, modische Brille, Gel im schwarzen Haar, pink Lacoste-Poloshirt,
       macht für einen so irren Tag einen sehr entspannten Eindruck. Er hat
       Geburtstag, einen Wespenstich am Finger von der Wahlkampfaktion im Freibad,
       abends kommt die Kanzlerin. Zwischendurch erklärt er eine Stunde lang,
       warum er sich in dem Duell vorne sieht.
       
       ## Ganzer Mann für Stuttgart
       
       Seine Strategie lässt sich mit drei Wörtern erklären: Präsenz, Nähe,
       Modernität. „Ich sage immer, Stuttgart erfordert den ganzen Mann.“ Ein
       direkt gewählter Abgeordneter vertrete die Interessen Stuttgarts in Berlin,
       er müsse die Stadt kennen und „idealerweise auch hier leben.“ Das ist eine
       Spitze gegen Özdemir, der sich erst neulich eine Wohnung gemietet hat.
       
       Diesen Spin versucht die CDU vor Ort zu setzen. Der Grünen-Promi fliegt nur
       kurz aus Berlin ein, um sich das Direktmandat abzuholen, lässt sich dann
       aber nie mehr blicken. Was in jedem Fall stimmt, ist, dass Kaufmann dazu
       ein Gegenmodell wäre. Er ist in der Stadt bestens vernetzt. Auch während
       der Legislaturperiode fuhr er fast jedes Wochenende nach Stuttgart,
       besuchte Vereins-, Schul- und Kirchenfeste. Jetzt, im Wahlkampf, sind es
       eben ein paar mehr.
       
       Als Kreischef hat Kaufmann den eigenen Laden behutsam modernisiert, er
       führte die Frauenquote im Kreisvorstand ein und unterstützte den
       parteilosen Werbeprofi Sebastian Turner bei seiner OB-Kandidatur, was
       bekanntlich schiefging. „Ich stehe für eine gesellschaftspolitische
       Modernisierung der CDU. Das ist bekannt, das verstecke ich auch nicht im
       Wahlkampf.“
       
       Ach ja: Kaufmann ist schwul. In Berlin gehört er zu denen, die in der CDU
       für einen liberalen Kurs bei der Gleichstellung von Homosexuellen kämpfen.
       Kaufmann ist, wenn man so will, der Prototyp des modernen
       Großstadt-CDUlers. Er fährt eine ähnliche Strategie wie Merkel im Bund.
       Gegen diesen entspannten Typen, der auf Plakaten den Hemdkragen offen
       trägt, können Grünen-Wähler eigentlich nicht viel haben. Kaufmann setzt auf
       Bildung und eine offene Gesellschaft, er ist nett und sogar cool. Oder
       zumindest das, was man in der CDU dafür hält.
       
       ## „Ich glaube, uns trennt nicht ganz so viel“
       
       Müsste Kaufmann mit Özdemir eine Koalition aushandeln, wären sie sich in
       einer halben Stunde einig. Oder? „Ja“, sagt Kaufmann, oder eigentlich:
       Joaaaah. In die Länge gezogen. „Ich glaube, uns trennt nicht ganz so viel.“
       Er lacht.
       
       Der Anspruch, Volkspartei zu sein, bemisst sich nicht nur an
       Prozentpunkten, sondern auch daran, ein breites Spektrum von Meinungen zu
       integrieren. Das tun die Grünen hier, siehe Degerloch. Für Özdemir kommt es
       darauf an, die noch zarten Bande in diesen bürgerlichen Milieus zu
       stabilisieren. Weder darf bei diesen Mitte-Wählern die alte Gewohnheit
       siegen, noch darf das Pendel der Schwaben, denen ein feines Gefühl für
       Ausgleich nachgesagt wird, zurückschwingen. Gegen die Grünen. Werdet’s mal
       net übermütig, so in etwa.
       
       Ein Frühstück im selben Café, Özdemir trinkt heiße Milch mit Honig für die
       Stimmbänder. „Im Bund ist der Begriff Volkspartei für die Grünen falsch.
       Aber in Stuttgart und Baden-Württemberg sieht es ein wenig anders aus.“ Er
       fährt die Strategie der ausgestreckten Hand, mit der auch Kretschmann
       erfolgreich war. „Dieser Stuttgart-Sound entspricht meinem Naturell und
       meinem Politikverständnis. Ich setze nicht auf die Methode Holzhammer,
       sondern ich lade ein.“
       
       Die Grünen-Geschäftsstelle ist Özdemirs War Room. Sein Büroleiter hat einen
       Stadtplan an die Wand gehängt, darin stecken Dutzende Nadeln mit Kärtchen.
       So behält er den Überblick, dass die Veranstaltungen über den Wahlkreis
       gestreut sind.
       
       ## Jung, Single, Akademiker
       
       Özdemirs Leute setzen wie die SPD im Bund auf Haustürbesuche, sie nehmen
       sich gezielt Stimmbezirke vor, die erfolgversprechend sind. Viele
       Akademiker, viele Singles, jüngerer Altersschnitt.
       
       Auch Özdemir klingelt an diesem Dienstagnachmittag persönlich an jeder Tür.
       Er nimmt zwei Stufen auf einmal bis in den vierten Stock, um kurz mit einem
       sowieso grün wählenden Studenten zu plaudern. Er zuckt mit keiner Wimper,
       als ihm ein Schwabe mit Bierbauch öffnet, der nur Unterhose trägt. Er gibt
       zwei Migrantenjungs in Jogginghosen die Hand. Özdemir, der sein Schwäbisch
       an- und ausknipsen kann wie eine Nachttischlampe, liegt das hier,
       Stuttgart, die spontanen Gespräche.
       
       Vermutlich ist das Rennen wirklich offen. Özdemir hat den Promi-Bonus,
       Kaufmann den Vor-Ort-Bonus. Kaufmann kennen viele Leute, Özdemir erkennen
       sie – und diese Silbe wird nicht unwichtig sein. Kaufmann wirkt
       authentischer, Özdemir professioneller. Kaufmann muss erklären, warum die
       Bundes-CDU nicht so modern tickt wie er, Özdemir, warum die Bundes-Grünen
       linker sind als ihr Chef.
       
       Natürlich erwischt ihn immer wieder die leidige Frage nach Schwarz-Grün.
       Nach der Koalition, die seine Partei offiziell hasst – die aber dem Gefühl
       nach zu Stuttgart passt wie Spätzleteig aufs Schabebrett. Zum Beispiel
       jetzt, als eine sportliche Mittdreißigerin, Pferdeschwanz, Baumwollshirt,
       an ihm vorbeilaufen will, die irgendwie sehr Grünen-affin aussieht.
       
       „Information von den Grünen?“, fragt Özdemir und will ihr einen Werbeflyer
       reichen.
       
       „Nein, ich weiß schon, wen ich wähle. Merkel ist schon ’ne Nette, oder?“
       Der Flyer verharrt in der Luft.
       
       „Ja, aber bei der kriegen Sie doch die Kristina Schröder mit dazu. Die ist
       im Paket mit drin.“
       
       „Und bei Ihnen Steinbrück. Wie sieht’s aus mit Schwarz-Grün?“ Flyer auf dem
       Rückzug.
       
       „Das wird dieses Mal nicht passen.“
       
       Özdemir steckt das Papier in die Anzugtasche. Er weiß, wann er verloren
       hat. Zumindest diese eine Stimme.
       
       2 Sep 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
       
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