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       # taz.de -- Hatz auf Migranten in Russland: Vietnamkrieg in Moskau
       
       > Erst schuften vietnamesische Migranten in illegalen Textilfabriken. Dann
       > werden sie gejagt und rausgeworfen – pünktlich zur Moskauer
       > Bürgermeisterwahl.
       
   IMG Bild: „Wie im Kriegsgefangenencamp“: aufgegriffene Vietnamesen im amtlichen Zeltlager.
       
       MOSKAU taz | Die Geschichte könnte aus der Feder eines russischen
       Satirikers stammen: Ende Juli machen sich Moskauer Behörden auf die Jagd
       auf illegale Einwanderer. Anfang September finden Bürgermeisterwahlen in
       Moskau statt und rigorose Maßnahmen gegen Fremdarbeiter garantierten
       bislang am Wahltag eine sichere Rendite.
       
       Diesmal ist die Propagandaveranstaltung jedoch aus dem Ruder gelaufen –
       obwohl die Behörden die Inszenierung der Jagd auf „Illegale“ nach
       dutzendfach erprobtem Drehbuch abfilmten und die Hatz aus der Luft wie
       einen Actionfilm darstellten.
       
       Die Bilder aus dem eilig eingerichteten Zuwandererlager in Goljanowo, im
       nördlichen Industriegürtel der Hauptstadt, ließen selbst die
       Gleichgültigeren nicht kalt. Mehr als 500 Immigranten waren in einer
       Armeezeltstadt zusammengepfercht, ohne sanitäre Einrichtungen und Zugang zu
       fließendem Wasser. Auch die Verpflegung mit einer, maximal zwei Schüsseln
       Buchweizenbrei pro Person und Tag erinnert eher an Rationen eines
       Kriegsgefangenencamps. [1][Nicht einmal an Reis war gedacht.] 
       
       Am Dienstag wurde offiziell damit begonnen, das Lager in einer
       Nacht-und-Nebel-Aktion zu räumen, ein Teil der Insassen wurde in das Dorf
       Severnij weiter nördlich Moskaus verlegt. Dort wartet wieder eine
       Zeltstadt, aber auch eine feste Unterkunft auf die illegalen Einwanderer,
       teilte die Migrationsbehörde mit.
       
       ## Geheime Fabriken im Untergrund
       
       Was die Öffentlichkeit nicht erfuhr: Als die Einwanderungsbehörde und
       Einheiten des Innenministeriums die Razzia durchführten, wohnten die
       Insassen des späteren Zeltlagers auf demselben Territorium fünfzig Meter
       entfernt noch in einer alten Fabrikhalle, die notdürftig zu einem Wohnheim
       umgebaut worden war.
       
       Tagsüber stiegen sie in den Keller hinab, wo geschnitten und geschneidert
       wurde. Dort befand sich eine von mehr als zwanzig Textilfabriken des
       Moskauer Untergrunds, die einem Vietnamesen gehörte und in der auch nur
       Vietnamesen arbeiten. Manche Zuwanderer hatten das riesige Areal der
       sowjetischen Industriebrache nie verlassen. Sie lebten dort wie einst der
       Vietkong im unterirdischen Tunnelsystem. Von außen ist nicht zu erkennen,
       was sich hinter dem fünf Meter hohen Beton- und Wellblechzaun befindet.
       Neugierige hält ein privater Sicherheitsdienst fern.
       
       Ohne die Kenntnis der Polizei und des für Einwanderung zuständigen
       Föderalen Migrationsdienstes (FMD) wäre es nicht möglich, eine geheime
       Fabrik über Jahre zu unterhalten, meinen Kenner der Szene. Sie gehen
       überdies davon aus, dass die einst günstigen chinesischen Textilien
       inzwischen vor Ort in Russland untertage von billigen asiatischen
       Arbeitskräften produziert werden. Für die Polizei und den FMD sind die
       Zuwanderer eine feste Einnahmequelle.
       
       Verlässliche Zahlen, wie viele Ausländer in Russland arbeiten, sind nur
       schwer zu ermitteln. Kürzlich sprach der FMD-Chef Konstantin Romodanowski
       von rund 11 Millionen legalen Ausländern. Dazu kommt jedoch noch eine
       Dunkelziffer von „Illegalen“, nach Schätzungen der Zeitung Nesawissimaja
       Gaseta mindestens 9 Millionen. Sie arbeiten als Hausmeister, Straßenfeger
       oder Bauarbeiter.
       
       ## Die Elite lebt auf Kosten der Billigarbeiter
       
       Das Chaos in der Einwanderungspolitik ist hausgemacht. Die Bewohner der
       früheren zentralasiatischen Sowjetrepubliken und des südlichen Kaukasus
       brauchen kein Einreisevisum. Zunächst war es der imperiale Phantomschmerz,
       der Moskau zur großzügigen Einwanderungspolitik bewog. Heute profitiert
       Russlands politische Elite auch wirtschaftlich vom Überangebot an
       Billigarbeitern.
       
       Turnusmäßig lassen sie die Behörden mal „Säuberung“ spielen und deportieren
       einige Delinquenten außer Landes. Der Bürger soll das Gefühl haben, seine
       Vorbehalte gegenüber Fremden würden ernst genommen. „Na pokas“ – nennen
       dies die Russen – „nur zur Schau“ auf Deutsch. Es klingt paradox, aber am
       Ende sind fast alle Beteiligten zufrieden. Die korrupten Beamten des FMD
       und der Polizei, die Elite und auch die Zuwanderer. Sie müssen nur in
       Einzelfällen mit Abschiebung rechnen.
       
       „Wer 5.000 Rubel hat, kommt hierher und kann dann gehen. Wer nichts hat,
       muss rüber“, beschreibt ein Immigrant nach Festnahme die Abwicklung auf der
       Einwanderungsbehörde: Wer zahlt, darf bleiben, den anderen wird mit
       Abschiebung gedroht.
       
       22 Aug 2013
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Helge Donath
       
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