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       # taz.de -- Schulbildung: Kinder sind das kleinste Problem
       
       > Mit Flüchtlingen und Zuwandererinnen kommen auch schulpflichtige Kinder
       > nach Berlin. Vor allem bei Plätzen für ältere Schüler hakt es.
       
   IMG Bild: Auch Flüchtlingskinder dürfen und müssen zur Schule (Archivbild)
       
       Das Anliegen der Mutter, die Dietrich-Eckhard Junge an seinem Schreibtisch
       im Charlottenburg-Wilmersdorfer Bürgeramt gegenübersitzt, ist
       nachvollziehbar: Drei Kinder im Grundschulalter habe sie, sagt die
       dunkelhaarige Frau, die noch einen Säugling auf dem Arm trägt. Alle drei
       sollten jetzt auf verschiedene Schulen gehen: „Ich kann aber nicht drei
       kleine Kinder morgens pünktlich zu drei verschiedenen Schulen bringen!“
       Ihre Bitte, alle drei auf eine Schule zu schicken, muss Junge aber
       ablehnen: „Wir haben einfach nicht genug Plätze auf nahen Schulen.“
       
       Die Mutter ist Asylbewerberin, Bewohnerin eines der drei Charlottenburger
       Flüchtlingsheime. Ihre Kinder sind laut Berliner Schulgesetz
       schulpflichtig. Das heißt: Die Mutter muss sie zur Schule schicken, und die
       Stadt muss Schulplätze für sie zur Verfügung stellen. Angesichts steigender
       Flüchtlings- und Zuwandererzahlen wurde in Charlottenburg-Wilmersdorf dafür
       vor einem Jahr die „Klärungsstelle für Schüler und Schülerinnen ohne
       Deutschkenntnisse“ ins Leben gerufen. Neben Junge, der eigentlich Lehrer
       ist, arbeiten hier die Sonderpädagogin Sabine Zöllner und der bezirkliche
       Schulrat Günther Kuhring.
       
       Knapp 3.000 Flüchtlinge sind seit Jahresbeginn nach Berlin gekommen. Wie
       viele von ihnen schulpflichtige Kinder und Jugendliche sind, wird nicht
       zentral erfasst. 150, die einen Schulplatz suchen, seien allein in den
       ersten zwei Schuljahreswochen seit Anfang August bei ihnen gewesen, erzählt
       Junge. Nicht alle sind aber Flüchtlinge: Auch Kinder von Eltern, die etwa
       aus beruflichen Gründen nach Berlin kommen und im Bezirk wohnen, kommen zur
       Klärungsstelle: „Wir haben hier Tschetschenen, Afghanen, Syrer und Spanier,
       Finnen oder Koreaner“, sagt Junge. „Da sind Zwölfjährige dabei, die noch
       nie eine Schule besucht haben, und Kinder, die mit einer kompletten
       Zeugnismappe in beglaubigter deutscher Übersetzung kommen.“
       
       Eins haben die Neuberliner SchülerInnen aber alle gemeinsam: „Sie können
       kein Deutsch.“ Und kommen deshalb – bis auf ErstklässlerInnen, die direkt
       in Regelklassen kommen – zunächst in eine der kleinen Sonderlerngruppen,
       die einige Schulen eingerichtet haben. Dort sollen sie ausreichend Deutsch
       lernen, um nach sechs bis zwölf Monaten am Regelunterricht teilnehmen zu
       können.
       
       Auch um den Übergang in die Regelklasse kümmert sich in
       Charlottenburg-Wilmersdorf die Klärungsstelle. 90 Kinder und Jugendliche
       aus Willkommensgruppen mussten am Ende des vergangenen Schuljahres mit
       regulären Schulplätzen versorgt werden. Das bedeutet für viele einen
       Schulwechsel. Denn nicht jede Schule im Bezirk bietet Willkommensklassen –
       und nicht in jedem Fall können SchülerInnen an der Schule in den
       Regelunterricht, wo ihre Willkommensklasse war. Mit dem Erfolg ihrer Arbeit
       sind Zöllner und Junge zufrieden: 30 der 90 Kinder und Jugendlichen konnten
       auf Gymnasien gehen. Ein Gymnasium hat über die Hälfte der Kinder aus
       seiner Willkommensklasse auch gleich selbst aufgenommen.
       
       Auch andere Bezirke setzen auf diesen Weg der schulischen Eingliederung.
       Lichtenberg etwa, das von allen Bezirken die meisten Berliner Flüchtlinge
       aufnimmt, hat derzeit 18 Lerngruppen an Grund- und Oberschulen. „Damit
       stoßen wir an unsere Grenzen“, sagt die bezirkliche Schulstadträtin Kerstin
       Beurich (SPD). Personell werden Schulen mit Willkommensklassen vom Senat
       zwar aufgestockt: mit 31 Lehrerstunden für eine Gruppe von maximal 13
       Kindern. Doch es mangelt an Platz: Etwa 300 Kinder ohne Deutschkenntnisse
       haben Lichtenbergs Schulen in diesem Jahr aufgenommen: „Das ist eigentlich
       eine ganze Schule“, sagt Beurich, die wie viele Bezirke in Berlin ohnehin
       steigende Schülerzahlen zu bewältigen hat: Fünf neue Grundschulen will
       Lichtenberg bis 2018 bauen.
       
       ## Vier Monate Wartezeit
       
       Es müsse überall dort, wo wie 2012 in Lichtenberg neue Flüchtlingsheime
       eröffnet würden, „dafür Sorge getragen werden, dass die Schulen darauf
       vorbereitet sind und ausreichend Plätze zur Verfügung haben“, sagt Walid
       Chahrour vom Flüchtlingsrat. Als Mitarbeiter des Beratungs- und
       Betreuungszentrums für junge Flüchtlinge (BBZ) kennt er die Probleme bei
       der Schulplatzversorgung. Das laufe „in keinem Bezirk“ reibungslos, sagt
       Chahrour: Wartezeiten von zwei bis vier Monaten seien „die Regel“. Vor
       allem mit Jugendlichen über 16 Jahre gebe es Probleme: „Oft wird
       vorgeschoben, sie seien nicht mehr schulpflichtig.“
       
       In Berlin endet die Schulpflicht nicht mit einem bestimmten Alter, sondern
       nach einem Schulbesuch von zehn Jahren. Wer dann keinen deutschen
       Schulabschluss hat, hat hier kaum eine Chance. „Jugendlichen, die gern in
       die Schule gehen möchten, darf man doch nicht einfach die Tür vor der Nase
       zuschlagen“, sagt Irfan Keskin vom BBZ-Projekt „Recht auf Bildung“.
       
       „Wir prüfen nicht die Schulpflicht, sondern ob jemand tatsächlich Chancen
       auf einen Abschluss hat“, sagt Lehrer Junge von der Charlottenburger
       Klärungsstelle dazu. In einem ist er sich mit Chahrour und Keskin einig:
       Viele der Flüchtlingskinder seien ausgesprochen lernmotiviert. Und
       Flüchtlingsberater Chahrour kann auch der Idee einer Klärungsstelle, die es
       noch längst nicht in allen Bezirken gibt, etwas abgewinnen: „Als
       koordinierende Anlaufstelle ist sie Teil der Lösung“, sagt er. Sie müsse
       dafür allerdings ihre Aufgabe „weniger in der Selektion der SchülerInnen
       sehen als darin, ihnen Wege freizuschaufeln“.
       
       19 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alke Wierth
       
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