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       # taz.de -- Leben im Grenzstaat: Luxemburger Kakofonie
       
       > Reich, sozial, glücklich – Luxemburg wirkt wie ein perfektes Europa en
       > miniature. Auf der Suche nach dem Lebensgefühl.
       
   IMG Bild: Europäischer Standard - die Grand Rue in der Luxemburger Fußgängerzone
       
       Europa ist am Ende. Zu viel Regulierung, zu hohe Steuern. Hier gibt es
       keine Dynamik, die Leute sind träge und satt“, sagt Aude am ersten Abend
       meiner viertägigen Luxemburgreise in einer schicken Cocktailbar in der
       Altstadt von Luxemburg-Stadt.
       
       Aude, glatte schwarze Haare, Hosenträgeranzug, Business Look, Ende zwanzig,
       Schweizerin, Vermögensberaterin, sagt dies mit einer gewissen Abscheu in
       ihrer Stimme. Fast scheint es, als würde sie sich vor „Good Old Europe“
       ekeln. „Die Musik spielt jetzt woanders“, fügt sie hinzu. „Die besten
       Geschäfte macht man in Singapur, Hongkong und Dubai. Luxemburg ist
       allerdings die Ausnahme, in Luxemburg lässt es sich gut leben und immer
       noch anständiges Geld verdienen.“ Marc, ihr Freund, muskulöser Typ,
       Sommersprossen im Gesicht, Luxemburger DJ, stimmt ihr zu: „Die besten Clubs
       findet man in Dubai. Aber Luxemburg ist okay. In Luxemburg kennt man
       wenigstens keine Geldsorgen. Luxemburg ist reich, sehr reich.“
       
       Diesen Satz habe ich in den folgenden Tagen immer wieder zu hören bekommen.
       Die nackten Zahlen sagen bereits alles: Das Bruttoinlandsprodukt ist mit
       107.000 US-Dollar – noch weit vor Katar und der Schweiz – das dritthöchste
       weltweit. In Deutschland liegt es bei 41.500 US-Dollar. Der
       Spitzensteuersatz ist mit 38 Prozent der niedrigste in Europa. Die
       Arbeitslosenquote beträgt 5,1 Prozent. Verliert man seinen Job, bekommt man
       als Sozialleistung 85 Prozent des letzten Bruttogehalts. Investmentfonds
       zahlen keine Körperschaft, -Gewerbe- oder Vermögensteuer. Und dann gibt es
       da natürlich noch die Banken: 160 haben eine Niederlassung in Luxemburg.
       
       Schon bei der Ankunft am Flughafen begegnen einem die Werbetafeln für
       Banken, Versicherungen und Luxusuhren. Gleich gegenüber dem
       Flughafengebäude haben die Banken und Versicherungen kleine
       Zweigniederlassungen. Das ist praktisch, denn so müssen die Audes, Marcs,
       Abdullahs und Wladimirs dieser Welt nicht einmal in die Stadt fahren, um
       ihre Geschäfte zu machen. Hopp mit dem Köfferchen rein und hopp mit dem
       Köfferchen wieder raus. Hier drückt sich die globale Finanzelite die Klinke
       in die Hand.
       
       Da ich nicht zur globalen Finanzelite gehöre, fahre ich mit dem Linienbus
       in die Stadt. Die Fahrt dauert 20 Minuten. Lëtzebuerg, wie die
       Einheimischen ihre Stadt nennen, wird durch Fels-und Tallandschaften
       geprägt. Das Zentrum, die Oberstadt, befindet sich auf einem großen
       Felsplateau. Die Altstadt ist hübsch: enge Gassen, Kopfsteinpflaster,
       elegante Shoppingmeilen, schicke Restaurants, gotische Kirchen,
       Renaissancegebäude, ein großherzoglicher Palast und eine Festungsmauer, die
       Corniche, auf der man herrliche Ausblicke auf die Unterstadt und das grüne
       Alzettetal genießen kann. Seit 1994 ist das alles
       Unesco-Weltkultur-Kulisse.
       
       Die Stadt wirkt auf den fremden Beobachter wie ein perfektes Europa en
       miniature. In den zahlreichen europäischen Institutionen arbeiten zirka
       7.000 EU-Beamte. Man parliert wie selbstverständlich auf Französisch,
       Deutsch, Englisch und Luxemburgisch. Frankreich und Deutschland sind rund
       20 Fahrminuten entfernt. 66 Prozent der 100.000 Einwohner sind Ausländer
       ohne luxemburgischen Pass. Täglich pendeln 135.000 Menschen, die
       sogenannten Grenzgänger, aus Belgien, den Niederlanden, Deutschland und
       Frankreich, um in der Stadt zu arbeiten. In den Cafés und Bäckereien
       bekommt man belgische Schokolade, deutsche Brötchen und französische
       Macarons. Die Straßen sind sauber: Es gibt keine Graffiti, kaum Bettler und
       keinen Dreck. Einkaufshäuser und Edelboutiquen sind gut besucht
       
       Um mehr über das Lebensgefühl dieser Stadt zu erfahren, treffe ich mich mit
       dem französischen Künstler Bruno Baltzer. Mit dem Aufzug geht es von der
       Oberstadt in die Unterstadt. Wir sitzen in einem Café, trinken Espresso.
       Bruno Baltzer, 47, groß gewachsen, lange Haare, grau melierter Vollbart,
       Kunstfotograf, ist Mitte der 90er Jahre von Frankreich nach Luxemburg
       ausgewandert. Im Grund, der Unterstadt, scheint er Gott und die Welt zu
       kennen. Nahezu jede zweite Person grüßt ihn herzlich. „Siehst du“, sagt er,
       „Luxemburg ist klein. Jeder kennt jeden.
       
       Man fühlt sich geborgen. „Schönes Kleine-Welt-Gefühl“, nennt es Bruno.
       „Arme Menschen sind nicht arm in Luxemburg. Sie kümmern sich um ihre
       Einwohner. Und man kann hier als Künstler gut leben und viel Geld
       verdienen. Und falls es nervt, hast du das Geld, um mal kurz nach Paris zu
       fahren. Du hast keine Probleme hier.“ Nach längerem Nachdenken sagt er dann
       noch: „Gut, es braucht mehrere Generationen, um von den Luxemburgern
       akzeptiert zu werden. Und wenn du wie ich kein Luxemburger Deutsch
       sprichst, bleibst du für sie immer ein Fremder, egal wie lange du schon
       hier wohnst.“
       
       Bruno ist glücklich in Luxemburg. Im Spätsommer wird er mit seiner
       italienischen Frau seine erste Tochter bekommen. Zum Abschied sagt er: „Sie
       wird eine typische Luxemburgerin mit ihren drei Pässen werden. Italienerin,
       Französin und Luxemburgerin. Das ist doch großartig.“
       
       Am Nachmittag flaniere ich durch die Stadt. Irgendwann gelange ich in einen
       recht großen Stadtpark: Die Blumenbeete sind in akkuraten geometrischen
       Formen angelegt, der Rasen ist frisch gemäht, und alle paar Meter
       beobachten einen Überwachungskameras. Luxemburg ist nicht nur noch reich,
       sondern auch sicher. Am Parkrand erblicke ich ein schlossartiges Gebäude.
       
       Es sieht wie ein altes Museum aus, aber in meinem Reiseführer ist an dieser
       Stelle kein Museum eingezeichnet. Ich frage eine Passantin, eine ältere
       Dame, was es mit dem Gebäude auf sich hat. „Das ist die Domaine de la
       Fondation J. P. Pescatore, eines der größten Altersheime von Luxemburg
       Stadt“, antwortet sie. „Aber um dort einen Platz zu bekommen, müssen Sie
       sich schon bei der Geburt anmelden. Es ist ein wirklich schönes
       Altersheim.“ – „Ja“, denke ich, „das ist ein wirklich schönes Altersheim,
       und überhaupt ist in Luxemburg einfach alles nur schön und bezaubernd.“
       
       An meinem letzten Abend gehe ich ins Go Ten, eine der wenigen Cocktailbars
       der Stadt. An der Bar komme ich mit drei Gästen ins Gespräch. Sie laden
       mich auf einen Crémant, eine Art Luxemburger Champagner, ein. Frank,
       Sebastian und Luis sind ungefähr Mitte 40, verheiratet, tragen alle Anzug,
       sind dicke Kumpels und gut drauf. Frank ist Franzose und Banker, Luis
       Belgier und macht was mit Versicherungen, und Sebastian ist ein
       Ensemblemitglied der Luxemburger Philharmonie. Sie laden mich auf weitere
       Crémants ein und erzählen mir, was ich in den letzten Tagen hundertfach
       gehört habe. Sie reden über Geschäftsreisen, gute Restaurants, astronomisch
       hohe Gehälter und die großartige Lebensqualität in Luxemburg-Stadt.
       
       Um 1 Uhr schließt die Bar, Frank bezahlt die Rechnung. Sie ziehen weiter,
       wollen, dass ich mitkomme, laden mich ein. Mit dem Taxi fahren wir ins
       Bahnhofsviertel. Wir sind betrunken. Wir ziehen von einer schummerigen Bar
       in die nächste, reden über Fußball und das Leben, trinken Crémant und noch
       mehr Crémant. Geld spielt keine Rolle, sie zahlen mit ihren goldenen
       Kreditkarten. Wir werden immer betrunkener. Es ist spät, bereits sehr spät
       geworden. Die Jungs wollen noch weiter in ein Cabaret. Ich will nicht.
       Frank sagt: „Die rumänischen Prostituierten dort sind großartig. Die Stunde
       kostet 250 Euro, und ich lade dich ein.“
       
       Ich lehne ab, bin betrunken, torkle nach Hause. Irgendwie finde ich mein
       Hotel. Ich setze mich in den Sessel am Fenster mit Blick auf die
       mucksmäuschenstille Stadt, hole mir ein Bier aus der Zimmerbar, rauche und
       warte auf die Vögel. Ich habe keine Lust auf Schlaf, will die Vögel hören,
       habe ein unerklärliches Bedürfnis nach ihrem kakofonischen Morgenkonzert.
       Ein Blauschimmer erscheint am Horizont, und dann legen sie los, die
       luxemburgischen Vögel. Ihr Gezwitscher und Geträller ist, im Gegensatz zu
       den Menschen hier, wild, abweichend, hart, irrsinnig und chaotisch. „Was
       für ein Krach, was für ein unbeschreiblich schöner, ohrenbetäubender
       Krach“, denke ich und bin zum ersten Mal glücklich in Luxemburg-Stadt.
       
       17 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alem Grabovac
       
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