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       # taz.de -- taz-Serie: Die Macht der Waffen: Zeit hilft nicht
       
       > Marias Sohn starb in Chicago im Kreuzfeuer vor ihrem Haus. „Der Verlust
       > wird schwerer, je mehr Zeit vergeht“, sagt sie. Eine Lobby haben die
       > Opfer oft nicht.
       
   IMG Bild: Eine junge Frau trägt ein Tattoo in Erinnerung an ihren erschossenen Bruder.
       
       CHICAGO taz | Michelle wollte nur bowlen gehen. Etwas Spaß haben nach der
       Arbeit mit ihren Kollegen vom Kaufhaus Forman Mills. Dort jobbte die
       21-Jährige, um neben dem College etwas Geld zu verdienen. Der Abschluss
       stand kurz bevor, danach wollte die junge Afroamerikanerin zur Navy gehen.
       Ein ganz normales Leben in Chicago, ohne viel Aufregung. Ohne Gewalt.
       
       Die Familie lebt einen Block von Präsident Obamas Haus im wohlhabenden
       Stadtteil Hyde Park entfernt. Doch an diesem Abend des 14. April 2012 kommt
       alles anders.
       
       Michelle und ihre Kolleginnen verfahren sich, finden den Weg zum
       Bowling-Center nicht. Michelle ruft ihre Mutter an, ihren Freund. Sie wird
       zum letzten Mal mit ihnen sprechen. Nach einigem Hin und Her landet die
       Gruppe bei einer Party im Westen der Stadt. North Lawndale ist nicht
       Obama-Nachbarschaft, hier ist Gewalt alltäglich. Aber es ist doch nur eine
       Geburtstagsparty.
       
       Was dann passiert, weiß Stacey Lowe nur aus Erzählungen. Die 44-Jährige
       sitzt in ihrem Büro in einem Park der Stadt und tippt weiter auf ihrer
       Tastatur, während sie erzählt. Guckt nur ab und zu hoch, dann oft ins
       Leere. Michelle streitet sich mit dem Neffen des Gastgebers. Sie ist eine
       attraktive Frau, lässt sich nichts so leicht sagen. „Ich habe ihr immer
       gesagt, irgendwann wird sie das in Schwierigkeiten bringen“, sagt ihre
       Mutter.
       
       Der Streit wird hitziger, Michelle droht damit, ihren Vater anzurufen.
       Schließlich entscheidet sich die Gruppe, die Party zu verlassen. Michelles
       Kolleginnen gehen vor, die Stufen des Eingangs hinunter zum Auto. Michelle
       läuft hinter ihnen, telefoniert mit ihrer älteren Schwester. Sie schafft es
       noch aus dem Haus, als der Gastgeber, der an diesem Abend seinen 35.
       Geburtstag feiert, in der Tür steht. Er feuert drei Schüsse ab. Zwei Kugeln
       treffen Michelle ins Gesäß, die dritte schlägt im Rücken ein und trifft die
       Aorta.
       
       ## Ein Zufall
       
       Um 5.02 Uhr wird die 21-Jährige im Krankenhaus für tot erklärt. Für Stacey
       Lowe „war es Zufall“. Ein Zufall, mit dem sie leben muss und der ihre
       Tochter sterben ließ.
       
       Michelles Mörder ist weiterhin in Freiheit. Obwohl jeder der Partygäste
       weiß, was passiert ist. Michelles Kolleginnen sind Zeugen. Staceys Wut ist
       manchmal größer als die Trauer. Vielleicht ist das leichter,
       zielgerichteter. „Stunden, nachdem es passiert ist, wusste die Polizei, wer
       es getan hat. Aber sie haben einfach nicht genug Beamte aufgebracht, um ihn
       zu verfolgen.“ Ob die Polizei den Fall noch bearbeitet, weiß Stacey nicht.
       Sie spricht nicht mehr mit den Behörden. Sie fühlt sich behandelt wie eine
       Verbrecherin.
       
       Natürlich wäre ihre Trauer nicht geringer, wenn der Täter verhaftet ist,
       sie weiß das. Nichts hilft, den Verlust zu kompensieren. Die Therapie
       nicht, die sie abgebrochen hat, die Gespräche nicht mit ihrem
       Lebensgefährten oder ihren drei anderen Kindern. Aber es würde helfen,
       wenigstens ein bisschen. „Ich wüsste, er könnte keine andere unschuldige
       Tochter töten.“
       
       Manchmal hat sie über einen Umzug nachgedacht, weg von der Erinnerung, von
       den Waffen auf der Straße, die hier in Chicago so viel verbreiteter sind
       als in New York oder Washington. Doch Michelle liegt hier begraben. „Ich
       kann sie nicht zurücklassen.“ Lernen, damit zu leben. Ein Klischee, das für
       Stacey Lowe zur Realität geworden ist. Im April war die Familie an der Ecke
       Springfield und 18. Straße. Dort, wo Michelle gestorben ist. Sie haben 21
       Luftballons in ihren Lieblingsfarben aufsteigen lassen und ein Gebet
       gesprochen. Manchmal hilft beten.
       
       ## Falscher Ort
       
       Es gibt sie, die zufälligen Opfer. Zur falschen Zeit am falschen Ort.
       Michelle ist eins von 506 Mordopfern der Stadt allein im vergangenen Jahr.
       „Ein großer Teil dieser Morde wird ungeplant, aus dem Affekt heraus
       begangen“, sagt Roseanna Ander, die das Crime Lab der Universität Chicago
       leitet. Das Institut erhebt Daten über Verbrechen und versucht darüber,
       Strategien für Städte und Schulen zu entwickeln.
       
       „Oft sind die Opfer Gangmitglieder“, erklärt Ander. Zahlen einer Studie des
       Crime Lab aus dem Jahr 2008 zeigen, dass die überwiegende Anzahl derer, die
       bei Schießereien auf der Straße sterben, junge Afroamerikaner aus einem
       alleinerziehenden Elternhaus und aus Armenvierteln sind. Wie viele es genau
       sind, ist schwer zu beziffern, nicht jedes Opfer trägt seine
       Gangzugehörigkeit als Tattoo auf der Haut eingraviert.
       
       Aber die Arbeit von Anders Team belegt, dass die zufälligen Opfer wie
       Michelle Lowe die Ausnahme sind. In Chicago sind viele Opfer auch Täter.
       Solche Fälle erregen keine große Aufmerksamkeit, kaum Mitleid in der
       Öffentlichkeit. „Lediglich 39 Prozent der afroamerikanischen Jungs in der
       Stadt haben einen Schulabschluss“, sagt Ander. Das ist keine Klientel, die
       über eine Lobby verfügt. Es sind nur „schlechte Jungs“, die „schlechte
       Jungs“ erschießen.
       
       Anders verhielt es sich mit Hadiya Pendleton. Die 15-Jährige spielte mit
       ihrer Band bei Veranstaltungen zur Amtseinführung von Präsident Obama
       Anfang 2013 und wurde – zufällig – wenige Tage später in einer Gasse in
       Chicago erschossen. Michelle Obama ließ es sich nicht nehmen, die
       Beerdigung zu besuchen, der Fall erregte international Aufmerksamkeit. Zwei
       Gangmitglieder wurden für die Tat verhaftet. Stacey Lowe kann das nur
       schwer akzeptieren. Für ihre Tochter habe sich niemand interessiert.
       
       ## Ignoranter Bürgermeister
       
       Tom Vanden Berk wünscht sich ebenfalls mehr öffentliches Engagement. „Der
       Bürgermeister behandelt das Thema nicht mit Vorrang“, sagt Vanden Berk.
       „Rahm Emanuel kümmert sich nur um politische Themen, mit denen er punkten
       kann.“ Waffen und Waffenkontrolle gehören nicht dazu. Vanden Berk leitet
       das Uhlich Children’s Advantage Network, eine soziale Einrichtung für
       misshandelte Kinder.
       
       Der studierte Soziologe hat seine gesamte Karriere mit Kindern gearbeitet.
       Seit dem 25. April 1992, als sein Sohn auf einer Party erschossen wurde,
       ist er Aktivist. „Wir müssen die Leute in Illinois dazu bewegen, diesem
       Thema Aufmerksamkeit zu schenken“, sagt Vanden Berk. Wer niemanden verloren
       hat, vergisst schnell, das ist nur menschlich. Vanden Berk kann das
       verstehen, aber nicht akzeptieren.
       
       Seit dem Tod seines Sohnes ist er offensiver geworden, er spricht vom
       „Kulturkampf“ gegen die Lobby der National Rifle Association (NRA) und
       gegen die amerikanische Rechte, die gegen jede Art von Waffenregulierung
       ist. „Die Wut über die Tat an meinem Sohn ist vergangen, aber sein Tod
       treibt mich weiter um“, sagt Vanden Berk. Er kämpft mit anderen
       Betroffenen, mit Sozialarbeitern und Kirchenmitgliedern gegen das
       Verdrängen derer, denen die Toten nur als furchtbare, doch flüchtige
       Meldung in den Nachrichten begegnen. In Chicago werden die Menschen nicht
       in den Vierteln mit den gepflegten Vorgärten erschossen, sondern im Süden
       und Westen der Stadt.
       
       Arcelia und Maria sind dort zu Hause. Sie leben in den Back of the Yards,
       die Fahrt in die Innenstadt dauert mit der U-Bahn keine halbe Stunde. Doch
       Marias Welt sind die Straßen rund um ihr Haus. Der Tatort. An einem Abend
       im September 2001 verließ ihr damals 19-jähriger Sohn die Wohnung,
       überquerte die Straße und geriet ins Kreuzfeuer eines Waffengefechts. „Ich
       habe ihn gehalten, als er starb.“
       
       ## Einander Halt geben
       
       Seinen Namen spricht Maria nicht aus. Fast zwölf Jahre später ist es nicht
       einfacher geworden, mit dem Verlust umzugehen. „Es wird schwerer, je mehr
       Zeit vergeht“, sagt sie. Die Sachen ihres Sohns um sich zu haben, die die
       Lücke so schmerzhaft ausschmücken und doch niemals auf dem Müll landen
       werden. Sich seine Zukunft auszumalen, immer wieder. „Am Anfang realisiert
       man nicht, dass jemand gegangen ist. Dann spürt man seine Abwesenheit immer
       deutlicher.“
       
       Maria ist Teil einer Gruppe von Müttern, die gemeinsam über den Verlust
       ihrer Söhne sprechen und versuchen, einander Halt zu geben. Arcelia gehört
       dazu, Lucia auch. Zusammen mit vielen anderen sind sie an einem warmen
       Sonntag im Mai auf die Straße gegangen, um ihr Viertel aufzurütteln. „Was
       wollen wir? Frieden. Wann wollen wir ihn? Sofort“, rufen sie bei ihrem
       Friedensmarsch.
       
       Es gibt viele solcher Märsche in Chicago. Ein paar Autos hupen aus
       Solidarität, Nachbarn stehen auf den Stufen vor ihrem Haus und betrachten
       die Gruppe, laufen aber nicht mit. Was soll das schon bringen? Maria hat
       über einen Umzug in ein anderes Viertel nachgedacht: „Aber es würde sich
       nichts ändern.“
       
       Marias Nachbarin Arcelia denkt darüber anders. Sobald ihr jüngster Sohn die
       Schule abgeschlossen hat, will sie umziehen. Sein Bruder Aurelio war 16,
       als er in der Nacht zum 5. Dezember 2010 erschossen wurde. Arcelia erfuhr
       es erst am nächsten Morgen. Sie gibt sich selbst die Schuld. „Die Eltern
       treiben ihre Kinder den Gangs in die Arme. Ich fing an zu arbeiten, und
       mein Mann trinkt sehr viel …“ Die Stimme versagt Arcelia häufig.
       
       Dabei hatte sie versucht gegenzusteuern. Sie schickte ihren Sohn, der
       Mitglied einer Gang war, für neun Monate nach Mexiko, damit er sich ändert.
       Und sie glaubt, dass Aurelio sich geändert hatte. Er kam nach Hause und
       schloss die Schule ab. Fünf Tage danach starb er.
       
       Arcelia ist überzeugt, dass er starb, weil er nicht mehr Teil seiner Gang
       sein wollte. Die Täter wurden nie gefasst. „Wenn ich diese ganzen Typen an
       den Straßenecken rumhängen sehe, werde ich so wütend!“ Sie hat keine
       Hoffnung mehr. Sie ist 39. Das alles, sagt sie, bringt sie langsam um.
       
       16 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rieke Havertz
       
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