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       # taz.de -- Szenarien für Ägypten: Einlenken, Blutbad, Bürgerkrieg
       
       > Bei der Auflösung der Protestlager in Kairo gab es viele Tote. Wie geht
       > es nach dem Blutvergießen weiter? Drei Entwicklungen sind denkbar.
       
   IMG Bild: Am wahrscheinlichsten ist, dass die Auseinandersetzungen weitergehen. – Kind in Kairo mit einer leeren Tränengaskartusche.
       
       BERLIN taz | Die Staatsführung in Ägypten hat ihre Drohung wahrgemacht und
       die Protestlager der Mursi-Anhänger in Kairo räumen lassen.
       
       Seit der Entmachtung Mohammed Mursis am 3. Juli rechtfertigen die neuen
       Machthaber ihr Vorgehen gegen die Islamisten mit der Rettung von Revolution
       und Demokratie. Nur so könne in Ägypten wieder Stabilität einkehren.
       
       Doch statt Ruhe herrscht nach der Auflösung der Protestcamps nun offiziell
       der Ausnahmezustand. Die vorläufige Bilanz der Aktion: über 400 Tote, die
       Muslimbruderschaft spricht von über 2.000.
       
       Wird Ägypten nach der jüngsten Eskalation auf den Weg der Demokratisierung
       zurückfinden? Oder droht zweieinhalb Jahre nach der ägyptischen Revolution
       ein Bürgerkrieg? Folgende Szenarien sind denkbar:
       
       ## Szenario 1: Einlenken der Muslimbrüder
       
       Angesichts der Gewalt ebben die Massenproteste der Mursi-Anhänger ab. Die
       Muslimbruderschaft gibt ihre Totalverweigerung auf und versucht, sich eine
       möglichst einflussreiche Stellung im künftigen Ägypten zu sichern. Von
       ihrer Maximalforderung, dass Mursi als Präsident rehabilitiert wird, lässt
       sie ab.
       
       Im Gegenzug entlässt die Armee/Regierung die inhaftierten Führer der
       Bruderschaft, gibt ihre eingefrorenen Vermögen frei und sichert ihnen zu,
       dass sie weiterhin am politischen Prozess teilnehmen können. Eine zivile
       Regierung bleibt an der Macht; gleichzeitig zieht das Militär im
       Hintergrund die Fäden und hält sich – ähnlich dem türkischen Modell – die
       Option offen, jederzeit erneut zu putschen.
       
       Einige radikale Islamisten würden in diesem Szenario weiterhin Anschläge
       auf Sicherheitskräfte und staatliche Einrichtungen verüben. Die
       Staatsführung könnte die Lage aber unter Kontrolle bringen und an der
       Roadmap festhalten – wie von Übergangsregierungschef Hazem al-Beblawi am
       Mittwochabend bereits angekündigt. Diesem Fahrplan zufolge wird eine neue
       Verfassung erarbeitet, Neuwahlen sollen Anfang 2014 stattfinden.
       
       Dieses Szenario ist unwahrscheinlich. In den vergangenen zwei Wochen hatte
       sich unter Vermittlung der EU und USA bereits ein Kompromiss abgezeichnet,
       der dem hier skizzierten ähnelt. Doch die Regierung erklärte die
       Vermittlungsversuche für gescheitert. Vor allem aber weist bislang nichts
       darauf hin, dass die Proteste nachlassen. Für diesen Freitag hat die
       Muslimbruderschaft bereits zu neuen Demonstrationen aufgerufen.
       
       ## Szenario 2: Anhaltender blutiger Konflikt
       
       Wahrscheinlicher ist, dass das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte die
       Mursi-Sympathisanten erst recht mobilisiert. In Kairo und anderen Städten
       kommt es zu Demonstrationszügen, spontanen Straßenblockaden und
       Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Der Staatsführung dient das
       als Rechtfertigung, hart gegen die islamische Strömung vorzugehen. Die
       Führungsriege der Muslimbruderschaft bleibt in Haft, Widerstand der
       Islamisten wird im Keim erstickt. Es kommt zu Massenverhaftungen und
       Einschüchterung durch staatliche Willkür.
       
       Während sich das Militär und Überbleibsel des alten Regimes
       Einflussmöglichkeiten und Privilegien sichern, versucht die Staatsführung,
       den Schein des Rechtsstaates zu wahren. Dafür hetzen Regierung und
       staatliche Medien wie bereits in den vergangenen Wochen gegen das
       islamistische Lager und brandmarken Oppositionelle pauschal als
       Terroristen.
       
       Aus der Bevölkerung erhält die Staatsführung trotz des anhaltenden
       Blutvergießens Unterstützung, etwa von der unkritischen Jugendbewegung
       Tamarrud, die die Anti-Mursi-Proteste vom 30. Juni organisierte. Kritische
       Stimmen bleiben in der Minderheit. Religiöse Parteien dürfen – wenn
       überhaupt – nur marginal am politischen Prozess teilnehmen. Die Freiheits-
       und Gerechtigkeitspartei der Muslimbrüder wird verboten.
       
       Dieses Szenario ist wohl das wahrscheinlichste. Die Armee/Regierung steht
       unter Druck, weitere Proteste zu unterdrücken, da jede Demonstration der
       Mursi-Anhänger als Zeichen der Schwäche gedeutet werden könnte. Dass die
       internationale Gemeinschaft bereit wäre, eine solche Entwicklung zu
       akzeptieren, hat die jahrzehntelange Zusammenarbeit westlicher Regierungen
       mit dem autokratischen Regime Hosni Mubaraks gezeigt.
       
       ## Szenario 3: Bürgerkrieg
       
       Seit der Entmachtung Mursis warnen viele Beobachter vor einem Bürgerkrieg
       in Ägypten. Doch vieles spricht gegen eine offene kriegerische
       Auseinandersetzung. Das ägyptische Militär ist die mit Abstand stärkste
       Kraft im Land. Die Muslimbrüder und andere, radikalere Islamisten haben
       keine bewaffneten Milizen wie etwa die Hisbollah im Libanon, die es mit
       einer staatlichen Armee aufnehmen kann. Fraglich ist, wer sich in einem
       ägyptischen Bürgerkrieg den Streitkräften entgegenstellen sollte. Auch auf
       eine Spaltung der Armee, die beispielsweise den syrischen Bürgerkrieg erst
       ermöglichte, weist bislang nichts hin.
       
       Zudem zeigen die Ägypter einen hohen nationalen Zusammenhalt ohne starken
       Einfluss ausländischer Mächte auf bestimmte Bevölkerungsgruppen.
       Konfessionelle Spannungen zwischen Christen und Muslimen gibt es zwar, doch
       verläuft der Kernkonflikt zwischen gläubigen sunnitischen Muslimen. Einen
       konfessionellen Konflikt, wie er etwa dem libanesischen Bürgerkrieg
       zugrunde lag, gibt es in Ägypten nicht.
       
       Allerdings gibt es ein starkes Gegenargument. Auch beim algerischen
       Bürgerkrieg in den neunziger Jahren handelte es sich nicht um einen
       konfessionellen Konflikt. Die Parallelen zu Ägypten sind erschreckend:
       Islamistische Strömungen konnten sich Ende der 1980er Jahre legal als
       Parteien in den politischen Prozess einbringen.
       
       Doch nach dem sich abzeichnenden Erfolg der Islamischen Heilsfront (FIS) in
       den Parlamentswahlen 1991/92 brach die Staatsführung die Wahlen ab. Die
       Islamisten gingen in den Untergrund, bewaffneten sich und nahmen den Kampf
       gegen den Staat auf. Es folgte ein neunjähriger Bürgerkrieg, dem
       Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende Menschen zum Opfer fielen.
       
       15 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jannis Hagmann
       
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