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       # taz.de -- Nach der Eskalation: Neue Proteste in Ägypten
       
       > Das Gesundheitsministerium korrigiert die Totenzahl auf mindestens 525.
       > In Alexandria gehen Mursi-Anhänger erneut zu Hunderten auf die Straße.
       
   IMG Bild: Nach dem Blutbad: In einer Moschee in Kairo lagern die Leichen vom Vortag.
       
       ALEXANDRIA/KAIRO afp/dpa/rtr | Die Muslimbrüder geben sich im Machtkampf
       mit dem Militär in Ägypten nicht geschlagen. In der ägyptischen
       Millionenmetropole Alexandria haben sich am Donnerstag Hunderte Anhänger
       der Bruderschaft zu einem Protestmarsch versammelt. „Wir werden
       wiederkommen im Namen unserer Märtyrer“, skandierte die Menge in der
       zweitgrößten Stadt des Landes.
       
       In Kairo stürmten islamistische Demonstranten den Dienstsitz des
       Gouverneurs der zum Großraum Kairo gehörenden Provinz Gizeh und steckten
       ihn in Brand, wie das staatliche Fernsehen berichtete. Für den Nachmittag
       hatte die Muslimbruderschaft einen Protestmarsch angekündigt.
       
       Die Bewegung werde nicht ruhen, bis „der Militärputsch“ gegen den von ihnen
       unterstützten Präsidenten Mohammed Mursi der Vergangenheit angehöre,
       erklärte ein Sprecher am Donnerstag über den Kurznachrichtendienst Twitter.
       Dabei würden die Muslimbrüder aber „stets gewaltfrei und friedlich“
       vorgehen. „Wir bleiben stark, aufsässig und entschlossen.“
       
       Die Gewalt war am Mittwoch in zahlreichen Städten Ägyptens eskaliert,
       nachdem die Sicherheitskräfte zwei Protestlager der Mursi-Anhänger in Kairo
       geräumt hatten. Es kam zum schlimmsten Blutvergießen an einem einzigen Tag
       in Ägypten seit Jahrzehnten.
       
       Das Gesundheitsministerium erhöhte die Totenzahl am Donnerstag auf
       mindestens 525. In den Stunden zuvor hatte es die Zahl immer wieder nach
       oben korrigiert und erklärt, womöglich liege sie letztlich noch höher. Die
       Muslimbruderschaft sprach von 2.000 Getöteten. Die Zahlen lassen sich
       angesichts des Ausmaßes der Gewalt nicht unabhängig überprüfen.
       
       Die vom Militär eingesetzte Übergangsregierung rief einen einmonatigen
       Ausnahmezustand aus und verhängte eine nächtliche Ausgangssperre in Kairo
       und zehn anderen Provinzen. Die Armee ermächtigte sie, wie unter dem 2011
       durch einen Volksaufstand gestürzten langjährigen Autokraten Husni Mubarak,
       Menschen in Gewahrsam zu nehmen und unbefristet festzuhalten.
       
       ## Ausgangssperre hält
       
       Über Nacht blieb es in Kairo überwiegend ruhig. Am Ort eines der beiden von
       Bulldozern niedergewalzten Protestcamps beseitigte die Müllabfuhr die
       schwelenden Überreste verbrannter Zelte. Soldaten brachen die Bühne im
       Zentrum des Lagers ab, in dem Demonstranten wochenlang mit Mahnwachen und
       Sitzstreiks die Wiedereinsetzung des Islamisten Mursi gefordert hatten. Das
       Militär hatte den ersten frei gewählten Präsidenten Ägyptens Anfang Juli
       nach Massenprotesten seiner Gegner abgesetzt.
       
       Die Übergangsregierung verteidigte ihre Entscheidung, die Protestlager
       aufzulösen. „Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die Dinge einen Punkt
       erreicht haben, den kein sich selbst achtender Staat akzeptieren darf“,
       sagte Ministerpräsident Hasem al-Beblawi am Mittwochabend in einer
       Fernsehansprache.
       
       Die Regierung habe keine andere Wahl gehabt, als eine Ausbreitung von
       Anarchie zu verhindern. Dennoch sei die Entscheidung nicht leicht gewesen.
       Der Notstand solle nur so lange in Kraft bleiben wie unbedingt nötig.
       Vizepräsident Mohammed ElBaradei reichte aus Protest gegen das gewaltsame
       Vorgehen der Sicherheitskräfte seinen Rücktritt ein.
       
       Auch die USA, die Europäische Union und die Vereinten Nationen hatten die
       Gewalt scharf verurteilt, eine Aufhebung des Notstands gefordert und eine
       Einbeziehung sämtlicher politischer Kräfte zur friedlichen Lösung der
       politischen Krise gefordert. In der vergangenen Woche waren internationale
       Vermittlungsbemühungen gescheitert.
       
       ## Westerwelle bestellt Botschafter ein
       
       Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) hat den ägyptischen Botschafter
       ins Auswärtige Amt in Berlin einbestellen lassen. Damit wolle er der
       ägyptischen Regierung noch einmal sehr deutlich machen, dass das
       Blutvergießen ein Ende haben müsse, sagte Westerwelle am Donnerstag bei
       seinem Besuch in Tunesien.
       
       „Ich verurteile den Einsatz der Gewalt zur Räumung der Plätze am gestrigen
       Tage in Ägypten mit großem Nachdruck“, sagte Westerwelle. „Es darf keine
       Spirale der Eskalation der Gewalt jetzt beginnen.“
       
       Westerwelle kündigte Konsequenzen aus der blutigen Räumung von
       Protestlagern der Islamisten mit Hunderten Toten an. Dazu liefen derzeit
       internationale Abstimmungen. „Wir sind zunächst einmal in einem engen
       Abstimmungsprozess mit unseren europäischen Partnern“, sagte Westerwelle.
       Es werde aber auch mit den USA und den arabischen Staaten einen Austausch
       dazu geben. In Frankreich hatte in einer ungewöhnlichen Geste Präsident
       François Hollande persönlich den ägyptischen Botschafter zu sich
       einbestellt.
       
       Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan forderte eine
       Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates. „Diejenigen, die angesichts
       dieses Massakers schweigen, sind genau so schuldig wie diejenigen, die es
       angerichtet haben“, sagte er in Ankara.
       
       ## Ölpreis steigt
       
       Die USA erwägen nach Angaben eines Regierungsvertreters, ihr anstehendes
       traditionelles Militärmanöver mit der ägyptischen Armee abzusagen. Die
       Übung „Bright Star“ wird seit 1981 alle zwei Jahre abgehalten. Auf dem
       Prüfstand stehe auch die jährliche Militärhilfe der USA an Ägypten in Höhe
       1,3 Milliarden Dollar, sagte eine Sprecherin des Außenministeriums in
       Washington.
       
       Spekulationen auf Lieferengpässe durch die Unruhen ließen den Ölpreis
       steigen. Ein Fass der Sorte Brent kostete mehr als 111 Dollar und damit so
       viel wie seit vier Monaten nicht mehr. Der weltweit zweitgrößte
       Haushaltsgeräte-Hersteller Electrolux stoppte seine Produktion in Ägypten
       vorübergehend.
       
       Die AEG-Mutter beschäftigt dort rund 7000 Mitarbeiter. Deutsche Unternehmen
       sind diesem Beispiel bislang nicht gefolgt und wollen je nach Entwicklung
       entscheiden, ob auch sie ihre Produktionsstätten in Ägypten zeitweise
       schließen.
       
       15 Aug 2013
       
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