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       # taz.de -- Unruhen in Ägypten: „Wir werden euch rächen“
       
       > Die Räumung der Protestcamps in Kairo durch die Polizei eskaliert. Eine
       > politische Lösung der gesellschaftlichen Konflikte ist nicht in Sicht.
       
   IMG Bild: Zorn und Gewalt sind im afrikanischen Staat mittlerweile Alltag
       
       KAIRO taz | „Militärchef Sisi ist ein Mörder. Er ist ein Mörder“, schreit
       eine Frau hysterisch. Sie ist gerade aus dem Protestlager in Rabaa
       al-Adawija im Osten Kairos gekommen, setzt sich jetzt auf den
       Mittelstreifen der Straße und hört nicht mehr auf zu schluchzen.
       
       Drinnen im Camp sind Tränengasgranaten zu hören, die fast im Minutentakt
       abgeschossen werden. Immer wieder ist das Peitschen von Gewehrschüssen
       auszumachen. Das Militär hat einen dieser vielen Eingänge zum Lager mit
       einem gepanzerten Fahrzeug abgesperrt.
       
       Der Soldat am Maschinengewehr sieht stoisch in eine kleine Menge von
       Demonstranten, die „Nieder mit der Militärherrschaft“ rufen. Bald fliegen
       die ersten Tränengasgranaten. Die Menge wird zerstreut, um kurz darauf
       zurückzukommen, als die ersten Verletzten aus dem Lager getragen werden.
       
       Immer wieder kommen Krankenwagen, die von den Militärs durchgelassen
       werden. Sie fahren in Richtung Hauptplatz, dort steigen schwarze
       Rauchwolken auf. „Ich schwöre vor jedem Polizisten in diesem Land, dass wir
       uns verteidigen werden und dass wir euch rächen werden“, schreit ein
       aufgebrachter Demonstrant.
       
       Um 7 Uhr morgens hatte es begonnen: Sicherheitskräfte stürmten die zwei
       Protestlager in der ägyptischen Hauptstadt, in denen sich Anhänger des
       gestürzten Expräsidenten Mohammed Mursi aufhielten. Das kleinere der beiden
       vor der Kairoer Universität war innerhalb von drei Stunden geräumt. Mittags
       schoben Bulldozer die Überreste des Lagers weg. Die Polizeiaktion gegen das
       größere Camp vor der Rabaa-Adawija-Moschee dauerte bis zum
       Redaktionsschluss an.
       
       ## Durchhalteparolen
       
       Eine kleine Gruppe von Demonstranten harrt noch vor dem großen zentralen
       Podium aus, während ein Redner Durchhalteparolen ins Mikrofon ruft. „Wir
       werden alle als Märtyrer sterben“, erklärt er. Die Situation ist
       unübersichtlich: „Die Sicherheitskräfte haben nur Tränengas auf die
       Demonstranten geschossen, obwohl sie von deren Seite unter Feuer gerieten“,
       heißt es in einer Erklärung des Innenministeriums. Die wenigen Journalisten
       im Lager sprechen dagegen davon, dass Scharfschützen von umliegenden
       höheren Gebäuden auf die Demonstranten geschossen haben sollen.
       
       Gedad El-Haddad, der Sprecher der Muslimbrüder, verbreitet über die
       sozialen Medien ein Video, das einen der Scharfschützen zeigen soll. Viele
       der Toten sollen durch Schusswunden umgekommen sein. Bisher wurde dieser
       Vorwurf aber noch nicht von unabhängiger Seite bestätigt. Unklar ist, wie
       viele Menschen bei der Räumung umgekommen sind.
       
       Im Feldlazarett in Rabaa Adawija sprechen Journalisten zunächst von 94
       Toten, am Nachmittag zählt ein AFP-Reporter auf diesem Platz schon 124
       Tote. Die Anhänger Mursis sprechen da bereits von insgesamt 2.200 Toten und
       10.000 Verletzten.
       
       Die offiziell herausgegebene Zahl ist wesentlich niedriger: Das
       Gesundheitsministerium meldet am Abend 95 Tote, darunter sind Polizisten
       wie auch Zivilisten. Die Zahl der Verwundeten habe fast 900 erreicht.
       Opferzahlen sind Teil des Propagandakrieges auf beiden Seiten.
       
       ## Neuer Sitzstreik im Westen der Stadt
       
       Die Anhänger Mursis haben ihre Proteste im Laufe des Tages dezentralisiert:
       Auch in anderen Teilen Kairos kommt es zu Demonstrationen, die aber von den
       Sicherheitskräften bereits im Keim erstickt werden. Im Stadtteil
       Muhandiseen im Westen der Stadt versuchen die Regierungsgegner einen neuen
       Sitzstreik zu formieren. Sie werden von der Polizei mit Schrotmunition
       angegriffen.
       
       Einer der dortigen Demonstranten fasst deren Taktik in einem Satz zusammen:
       „Wenn ihr unseren Protest räumt, werden wir woanders einen neuen anfangen.“
       Der Zugverkehr nach Kairo wird eingestellt. Damit soll offensichtlich
       verhindert werden, dass die Muslimbrüder ihrer Anhänger von den Provinzen
       nach Kairo bringen. Auf politischer Ebene blieb es relativ ruhig.
       
       In einer kurzen Erklärung ließ die Übergangsregierung verlauten, dass man
       hart gegen alle Sabotageversuche gegen staatliche Institutionen vorgehen
       werde, während das Recht auf friedliche Demonstrationen aufrechterhalten
       bleibe. Keine Seite dürfe auf dem weiteren demokratischen Fahrplan außen
       vorgelassen werden, hieß es weiter.
       
       Nach dem blutigen Tag in Kairo ist es aber noch unwahrscheinlicher
       geworden, dass für das polarisierte Land eine politische Lösung gefunden
       wird. Möglich ist auch, dass die Zusammenarbeit zwischen Militärs und
       ziviler Regierung Risse bekommt und einige Minister ihre Rücktritt
       erklären.
       
       Mohammed El-Beltagi, einer der führenden Köpfe der Muslimbrüder, fordert
       die Bevölkerung auf, gegen den Militärputsch auf die Straße zugehen.
       „Ehrenhafte Militär- und Polizeioffiziere“ sollen gegen den Militärchef
       Abdel Fattah al-Sisi Position beziehen: „Die Plätze Ägyptens werden sich in
       einen einzigen großen Sitzstreik verwandeln“, droht er. An die
       internationale Gemeinschaft gerichtet sagte er: „Wenn ihr nichts
       unternehmt, um das zu stoppen, seid ihr Komplizen“.
       
       14 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karim Gawhary
       
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