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       # taz.de -- Tanztheater am Müggelsee: Märchen und Spekulationsblasen
       
       > Die argentinische Choreografin Constanza Macras hat ihr Stück „Forest:
       > The Nature of Crisis“ wirklich in den Wald verlegt.
       
   IMG Bild: Szenenaussschnitt aus Constanza Macras' „Forest: The Nature of Crisis“.
       
       Constanza Macras hat bisher vor allem urbane Themen beackert: In ihren
       Stücken tummelten sich Großstadtneurotiker, Problemkids oder
       Migrationsgestrandete. Doch nun hat die argentinische Choreografin einen
       neuen Performanceraum erschlossen: den Wald. Mit „Forest: The Nature of
       Crisis“ nimmt sie ihr Publikum mit auf eine irrwitzige Reise ins Reich der
       Mythen und Märchen. Akteure und Zuschauer begeben sich dabei gemeinsam auf
       einen dreistündigen Parcours durch den Müggelwald, Nadelduft in der Nase
       und weich federnden Boden unter den Füßen.
       
       Während der Tross erwartungsvoll zum ersten Schauplatz marschiert, huschen
       schon die ersten Feen durchs Gehölz. „Geh, wilder Knochenmann und rühre
       mich nicht an“, röhrt eine Punklady hinter einem Baum hervor. „Der Tod und
       das Mädchen“ von Franz Schubert einmal anders.
       
       Das Stück muss man sich erwandern, zwischen den Stationen warten zahlreiche
       Überraschungen am Wegesrand: Da räkelt sich die Prinzessin auf der Erbse
       auf einem Berg von Matratzen, Trolle im Camouflage-Look umkreisen die
       Karawane oder eine leblose Maid liegt tief unten in der Schlucht. Diese
       Sidekicks kitzeln die Fantasie und holen Vorstellungen vom Wald als
       zauberhaft verwunschenem Ort an die Oberfläche, die seit Kindertagen im
       Kopf verankert sind.
       
       Die Tour durch den Müggelwald ist nicht der erste künstlerische Exkurs
       dieser Art. Im vergangenen Jahr hat Constanza Macras ein ähnliches Projekt
       in Wales auf die Beine gestellt. In „Branches: The Nature of Crisis“ begab
       sie sich tief in die keltische Mythologie hinein und schlug den Bogen in
       die Jetztzeit, indem sie aktuelle Wirtschaftskrisen in Beziehung setzte zum
       Wald als Projektionsfläche für zivilisatorische Sehnsüchte und Eskapismus.
       
       ## Die Dinge ändern sich zauberhaft
       
       Für die Berliner Ausgabe sprudelten nicht minder viele Inspirationsquellen:
       Die Epoche der Romantik etwa, die den Mythos Wald in der Kulturgeschichte
       festgeschrieben hat. „Der Wald ist ein Ort, an dem sich die Dinge
       zauberhaft verändern, wie in Grimms Märchen. In der Krise wird auch etwas
       komplett verändert. So bringe ich beides zusammen: Märchen und
       Spekulationsblasen“, so erklärt Macras ihren Ansatz.
       
       Gewohnt schrill fallen dann auch die Interpretationen des Grimm’schen
       Fundus aus: Schneewittchen ist eine spanische Studentin, die den Kredit für
       ihre Eigentumswohnung nicht mehr abbezahlen kann und bei Ökoaktivisten im
       Wald landet.
       
       Zu ihrem Namen ist sie gekommen, weil sie sich zu viel Kokain durchs
       Näschen zieht; die böse Stiefmutter will nicht ihre Schönheit, sondern nur
       ihr Geld. Bei Rapunzel taucht statt des Prinzen ein Pizzabote auf, der
       Schönen reißt er beim Aufstieg am Haar die Extensions aus.
       
       Was nach Klamauk klingt, ist der für Macras typische Wille zur Zuspitzung,
       der Humor, Trash und Ernst so wunderbar verbindet. Die 25 Darsteller –
       feste Ensemblemitglieder von Dorky Park und Gastperformer – leisten dabei
       Immenses: Sie hasten durchs Gelände von Rolle zu Rolle, verausgaben sich
       bei der skurrilen Collage aus Tanz, Text und Gesang. Dabei gehört bei
       Weitem nicht alles ins Reich der Mythen und Sagen.
       
       ## Die Geschichte von John Law
       
       Macras hat für ihr Stück die wahre Geschichte des schottischen Bankiers
       John Law ausgegraben. Er führte Anfang des 18. Jahrhunderts in Frankreich
       das Papiergeld ein, brachte jedoch durch Aktienspekulationen das Land an
       den Rand eines Staatsbankrotts. Die Finanzdesperados von heute lassen
       grüßen. Kommentare zur aktuellen Lage schimmern auch an anderen Stellen
       durch. „Krise ist wie ein Katalysator für Transformationen.
       
       Wenn jemand sein Land wegen der Krise verlässt, ist das zwangsläufig eine
       Riesenveränderung“, findet Macras. Da verwundert es nicht, dass es Hänsel
       und Gretel von Griechenland nach Deutschland verschlägt.
       
       Die letzte Station, eine Art Karaoke-Märchenhütte, liefert mit Songs von
       Tokio Hotel bis Joy Division den Soundtrack für die finale Nabelschau der
       Krisenkinder. Ermattet lehnt ein Teil der Meute an einem Baumstumpf, einige
       liefern in sich versunken Soli, andere duellieren sich mit
       Plastikschwertern. Ob hier Märchenfiguren oder reale Zeitgenossen eine
       Disko grotesque tanzen, ist unklar, die Grenzen sind längst verschwommen.
       
       Drei Stunden, die furios Märchenszenen, Kommentare zur Wirtschaftskrise und
       zum Ökobewusstsein verquicken, gehen zu Ende. Beim Weg aus dem Wald heraus,
       den man sich mit Taschenlampen leuchten muss, können eigene Fantasien
       sprießen. Die Dunkelheit kriecht durch die Bäume heran, der Mond leuchtet
       durch die Wolken, die Zeilen des Erlkönigs klingen noch im Ohr. Kopfkino,
       schauerlich schön!
       
       11 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Annett Jaensch
       
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