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       # taz.de -- taz-Serie: Die Macht der Waffen: Der Regen und die Polizei
       
       > Dreimal berührt der Polizist unauffällig das Auto, das er kontrolliert.
       > Er hinterlässt seine Fingerabdrücke – falls geschossen wird. Mit auf
       > Streife in Chicago.
       
   IMG Bild: Das vergangene Jahr war eins der gewalttätigsten in der Geschichte Chicagos: Polizeieinsatz in West Englewood.
       
       CHICAGO taz | Die Luft ist warm an diesem Abend in Chicago, doch der Himmel
       grau. Im äußersten Westen Chicagos weht nicht der Wind vom See herüber, der
       in den teuren Vierteln mit Blick aufs Wasser stets umgeht. Hier drücken die
       Wolken auf die Dächer der einfachen Holzhäuser mit ihren Veranden und den
       dreckigen Gassen davor.
       
       Es sieht nach Regen aus in Austin, einem der ärmsten Viertel der Stadt.
       Kaiserwetter für die Polizisten Brenna Scanlan und Brent Antesberger. Wenn
       es regnet, wird ihr Job leichter. Dann erschießen nicht so viele Menschen
       andere Menschen, weil sie nicht ihre viele freie Zeit auf der Straße
       verbringen. Hier sehnt man die heißen, wolkenfreien Tage nicht herbei. Denn
       dann sterben mehr Menschen.
       
       Scanlan und Antesberger sind täglich im 15. Distrikt der Polizei auf
       Streife. Bis zum späten Abend fahren sie durch die Straßen, die nicht ihre
       Heimat sind, aber dennoch ihr Zuhause, da sie seit Jahren in dieser
       Nachbarschaft arbeiten. Sie nennen die Gegend „wirtschaftlich
       benachteiligt“. Die Beziehung zwischen Polizei und Bewohnern ist nicht
       einfach. Die Kriminalität ist hoch, und die Polizei verhaftet nicht einfach
       Täter, sondern die Täter sind Söhne, Ehemänner, Nachbarn.
       
       Polizei und Bevölkerung sind zwar in einem von Gangs dominierten Viertel
       wie Austin aufeinander angewiesen; man braucht, aber man verbrüdert sich
       nicht. Scanlan bemüht sich um einen verbindlichen Ton, durch das offene
       Fenster ihres Streifenwagens ruft sie immer mal wieder: „Wie geht’s?“, wenn
       sie mit dem Auto langsam durch die Seitenstraßen rollt und Fußgänger
       passiert. Doch es wirkt distanziert.
       
       Entlang der Straßen in Austin, wo mehr als 90.000 überwiegend schwarze
       Chicagoer leben, gibt es keine großen Supermärkte, keine Cafés. Die
       Arbeitslosigkeit liegt bei 21 Prozent, doppelt so hoch wie der Durchschnitt
       der Stadt. Was es gibt, sind ein paar kleine Eckläden, die Fenster sind
       verrammelt, um sie vor Zerstörung aber auch Schießereien zu schützen. Laut
       Polizeistatistik werden in Austin pro 100.000 Einwohner im Schnitt 34,5
       umgebracht.
       
       ## "Ich liebe meine Glock"
       
       An diesem Abend sind es kleinere Delikte, die Brent Antesberger, der bis
       vor drei Jahren Lehrer war, und seine erfahrene Kollegin Brenna Scanlan
       verfolgen. Fast langweilig. „Es ist tot draußen“, sagt Scanlan. Die
       drogenabhängige Prostituierte ist nicht mehr als eine „hot mess“. Ein
       chaotischer, hoffnungsloser Fall. Ein paar Ecken weiter stören Kollegen
       einen Drogenverkauf, Scanlan wird hinzugerufen, denn die Käuferin ist eine
       Frau. Noch so eine „hot mess“. Die Polizistin filzt sie, findet das
       Tütchen. Crack kostet auf der Straße zehn Dollar.
       
       Brenna Scanlan setzt ihre Sonnenbrille wieder auf. Mit der Designerbrille
       und ihrem bunten Glitzernagellack wirkt sie fast mädchenhaft, nicht wie
       jemand, der seit neun Jahren eine schusssichere Weste und eine Dienstwaffe
       trägt. „Honey, ich liebe meine Glock.“ – „Heckler & Koch sind auch gut, nur
       teuer“, wirft der Kollege ein. Weg ist sie, die Illusion des Glitzerlacks.
       
       Die Dialoge sind die schlechte Kopie einer klischeebeladenen Copserie im
       Fernsehen. Joshua Purkiss würde gut in eine solche passen, Typ harter
       Straßenbulle. Früher in einer Eliteeinheit, die Arme tätowiert, der Schädel
       kahl rasiert, die schusssichere Weste individuell angepasst, mit Platz fürs
       Messer. Purkiss will Karriere machen und ist daher in die
       Öffentlichkeitsabteilung gewechselt. Deswegen sitzt er mit im Wagen.
       
       ## Der Stoff ist weg
       
       Als es plötzlich an einer Tankstelle hektisch wird, ist Purkiss als Erster
       aus dem Wagen, nicht ohne „Auf keinen Fall aussteigen!“ zu brüllen. Fünf
       junge Afroamerikaner hängen scheinbar an den Zapfsäulen ab. Als der
       Streifenwagen vorfährt, versuchen sie, sich in alle Richtungen zu
       zerstreuen. Alltag für die Polizisten, die schneller sind als die Jungs.
       Mit Kabelbinder aneinandergefesselt lehnen die Jugendlichen kurze Zeit
       später bäuchlings am Wagen und werden nach Waffen und Drogen durchsucht.
       
       Die Ecke ist ein bekannter Umschlagplatz, aber die Jugendlichen haben ihre
       Ware rechtzeitig wegschaffen können. Bis alle Personalien festgestellt
       sind, vergeht viel Zeit. Einer der Jugendlichen wurde in den letzten zehn
       Tagen dreimal festgenommen. Dieses Mal darf er gehen, Scanlan und
       Antesberger haben nichts gegen ihn in der Hand. „Wir hätten den ganzen Tag
       hier zu tun“, sagt Scanlan. Setzt sich in den Wagen und kehrt der
       Tankstelle den Rücken. Die Zeit ist knapp, das Viertel groß.
       
       Wenig später berührt Officer Antesberger unauffällig den Kofferraum des
       schwarzen Autos, das sie angehalten haben. Der Fahrer hat ein Stoppschild
       ignoriert. Eine Kleinigkeit. Aber hier im 15. Polizeidistrikt der Stadt
       wissen die Polizisten nie, ob sich nicht eine Waffe im Wagen befindet. Noch
       einmal berührt Antesberger sacht das Dach und den Fensterrahmen der
       Fahrerseite. Sollte der Fahrer schießen und anschließend fliehen, sind die
       Fingerabdrücke des Polizisten überall auf dem Auto. Die schusssicheren
       Westen sind eher kugelabwehrend als wirklich sicher. Doch der Fahrer bleibt
       ruhig, auch als sich herausstellt, dass er ohne Führerschein unterwegs ist.
       Niemand zieht eine Waffe.
       
       ## Neuer Polizeichef
       
       Pistolen sind die Waffen der Wahl in einer Nachbarschaft, in der
       konkurrierende Gangs die Kontrolle über einzelne Straßenzüge auskämpfen.
       Die Polizei ist in der Minderzahl, obwohl Chicago mit 12.500 Beamten die
       zweitgrößte Einheit nach New York City aufweist. „Jede Waffe da draußen ist
       eine Waffe, die einem Polizisten das Leben nehmen kann“, sagt Purkiss,
       überlegt kurz und schiebt hinterher: „Und den Menschen hier.“
       
       Das vergangene Jahr war eines der gewalttätigsten in der Geschichte
       Chicagos, 506 Menschen wurden getötet. Bürgermeister Rahm Emanuel musste
       etwas ändern. Der einstige Stabschef Präsident Obamas ist seit 2011 im Amt.
       Er stellte einen neuen Polizeichef ein und löste die Taskforce auf, die in
       Krisenzeiten die Reviere unterstützte. Das neue Konzept sieht
       kontinuierliche Arbeit vor Ort mit mehr Beamten vor, damit sie die sich
       ständig aufspaltenden Gangs genauer im Blick haben können. „Kleinere Gangs
       machen uns das Leben viel schwerer“, sagt Purkiss. Kriminalität hat etwas
       Organisches, sie verändert sich stetig.
       
       Überwacht wird die neue „Anti-Gang-Strategie“ von „Chief“ Bob Tracey, der
       die Zahlen sofort parat hat: In den ersten Monaten des Jahres sei die
       Mordrate um 34 Prozent gesunken. Dass der Frühling in Chicago in diesem
       Jahr ungewöhnlich regnerisch ausgefallen ist, erwähnt er nicht. Tracey
       sitzt, mit sich und der Statistik zufrieden, in seinem Eckbüro, der
       Bauchansatz lässt das weiße Oberhemd spannen. „Wir werden diese Zahlen
       halten können“, sagt Tracey. Doch dafür zahlt die Stadt einen hohen Preis:
       Die Polizei ist unterbesetzt und überarbeitet.
       
       ## Viel zu wenig Beamte
       
       Überstunden sind normal im Polizeialltag, die Kosten dafür im Haushalt
       einkalkuliert. Doch laut New York Times sind bereits 31,9 Millionen Dollar
       der dafür veranschlagten 39 Millionen aufgebraucht. Und auf den Straßen in
       Austin patrouillieren viele „Rookies“, Anfänger von der Polizeiakademie.
       „Das reicht nicht“, kritisiert Excop Alfredo, der mehr als 30 Jahre in
       Chicago gearbeitet hat. Diese Beamten hätten schlicht zu wenig Erfahrung.
       
       Chief Tracey bestreitet, dass die Anti-Gang-Strategie die Überstunden
       verursacht, und verweist auf seine 12.500 Mann starke Truppe. „Wir werden
       diese Zahl nicht reduzieren.“ Doch Alfredo zitiert Zahlen der Gewerkschaft,
       von 2009 bis 2012 seien 820 Polizisten eingestellt worden, 2.200 dagegen
       verließen die Truppe. „Es ist ein undankbarer Job in einer gefährlichen
       Stadt, der Ruf der Truppe ist nicht der beste“, sagt er. Außerdem zahle die
       Privatwirtschaft einfach besser. „Die Polizei hat zu wenig Beamte, es ist
       lächerlich.“ Doch im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl steht Chicago gut
       da, in Los Angeles etwa kommen 25,7 Polizisten auf 10.000 Einwohner, in
       Chicago sind es 44,7.
       
       ## Abschreckungsstrategie
       
       Mehr Beamte, mehr Präsenz auf der Straße, härtere Gesetze – so lautet die
       Antwort von Polizei und Politik auf die Gewaltproblematik in der Stadt.
       Bürgermeister Emanuel will die Mindeststrafe für unerlaubten Waffenbesitz
       von einem auf drei Jahre hochsetzen, mit der Auflage, mindestens 85 Prozent
       der Zeit im Gefängnis abzusitzen. Doch die Umsetzung der
       Abschreckungsstrategie braucht Zeit, und ob härteres Eingreifen allein zum
       Erfolg führt, bleibt offen. Im Juli starben in Chicago 52 Menschen auf
       gewaltsame Weise.
       
       Brenna Scanlan und Brent Antesberger können auf neue Strategien und Gesetze
       nicht warten. Sie verlassen sich auf ihre eigenen Waffen. Der nächste Wagen
       wird angehalten, das gleiche Spiel: Kofferraum berühren, dann das Dach,
       dann den Fensterrahmen. Der Fahrer verstrickt sich in Lügen, nennt einen
       falschen Namen. Er ist in Drogengeschäfte verwickelt. „Was für ein
       Dummkopf“, sagt Scanlan. Aber nicht so dumm, eine Waffe zu ziehen. Bis zum
       Ende ihrer Schicht hören die beiden Polizisten keine Schüsse in Austin. Der
       Himmel öffnet sich, Regen fällt.
       
       7 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rieke Havertz
       
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