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       # taz.de -- Die Wahrheit: Weiter mit Vampiren
       
       > Teil 6 der großen Wahrheit-Sommerserie „Ympäri Suomen – Rund um
       > Finnland“. Heute heißt das Motto: Blutbad in Lappland.
       
   IMG Bild: Ein stromerndes Rentier versteckt sich halb hinterm Haus.
       
       Im vergangenen Jahr erschien das Buch „Finne dich selbst“ von Bernd
       Gieseking. Ein Jahr später will der Wahrheit-Autor überprüfen, ob auch
       alles noch seine Richtigkeit hat, was er seinerzeit über das seltsame Suomi
       geschrieben hat. Deshalb umrundet er nun einen Sommer lang für die
       Wahrheit, die sonst strikt Umrundungen aller Art ablehnt, Finnland. 
       
       Ein Schild warnt in Finnland immer wieder vor Elchen, aber da kann man noch
       so schauen – es zeigt sich keiner. Dennoch halte ich bald jede zweite
       herausgerissene Baumwurzel am Wegesrand und in den Wäldern um mich herum
       für einen Elch. Und bin jedes Mal enttäuscht, wenn ich dann doch nur an
       Gehölz vorbeifahre. Aber noch liegt ja das ganze Land vor mir. Da kann der
       Elch ja noch kommen. Finnland hat allein eine Außengrenze von 2.681
       Kilometern an Schweden, Norwegen und Russland entlang, da sind die reinen
       Ufergebiete im Süden und Westen noch gar nicht erfasst. Platz genug für
       zwei und mehr Elche, mir zu begegnen. Ich bin sicher, ich werde meinen
       finden beziehungsweise er mich.
       
       Ich verlasse Rovaniemi und fahre quer rüber zur schwedischen Grenze, dann
       flussaufwärts an Tornionjoki, Muonionjoki und Könkämäeno entlang.
       
       Lappland. Je weiter ich nach Norden komme, um so kleiner werden die Bäume.
       Das trifft aber auch auf die Tierwelt zu. Die Elche werden zu Rentieren.
       Sogar das Geweih wird kleiner. Eine Gegend für Tierfilmliebhaber. Dauernd
       kommen sie aus dem Gehölz. Hier rennt das Tier einem aber nicht nur vor die
       Linse, sondern auch vor das Auto. Ständig. Mit den Rentier-Warnschildern
       macht es sich der Finne einfach. Kurz hinter Rovaniemi steht ein Schild,
       dass ganz Lappland Rentierzuchtgebiet sei und man entsprechend fahren soll.
       Das gilt ab jetzt und bis auf weiteres. Die Rentiere laufen frei und wo sie
       wollen. Ich lerne von einem Finnen: „Wenn sie fressen, fressen sie. Wenn
       sie nicht fressen, laufen sie dir vor den Wagen.“
       
       Ich darf hier zwar 80 fahren, aber das mache ich praktisch nie, denn
       erstens erscheint mir das inzwischen rasend schnell, wie 180 zu Hause, und
       zweitens kommen tatsächlich dauernd Tiere quer. Ich halte ständig.
       Rentiere. Direkt vor mir! Drittens ist eine neue Bedrohung im
       Straßenverkehr aufgetaucht. Direkt in meinem Wagen.
       
       Zartbesaitete Naturen sollten die nächsten Abschnitte vielleicht besser
       überspringen. Nachdem ich in Muonio übernachtet hatte, werde ich wach, und
       es juckt. Mückenstiche. Nicht viele, höchstens fünf, aber ganz schlecht
       verteilt, so dass ich nicht alle gleichzeitig kratzen kann. Und an ganz
       fiesen Stellen: Hals hinten, rechter Fuß am Knöchel außen …
       
       Das ganze Land steht voller Elchwarnschilder, aber kein einziges Schild
       warnt vor Mücken. Aber dann sähe man Finnland auch nicht mehr vor lauter
       Schildern. Ich fahre parallel zum Muonionjoki. Immer wieder fantastische
       Naturbilder, die ich mir näher besehen will. Sobald ich halte und die Tür
       nur einen Spalt öffne, sind sie da – die Vampire des Nordens. Sie stürzen
       sich auf mich und in meinen Wagen. Ich schlage um mich. Sieben auf einen
       Streich ist hier überhaupt kein Problem.
       
       Die Angler am Fluss tragen Hüte mit Mückennetz. Ich bald auch, aber beim
       Fahren! Wenn telefonieren im Auto verboten ist, dann müsste Mücken
       erschlagen im fahrenden Wagen erst Recht verboten sein. Bald kleben an
       meiner Windschutzscheibe innen mehr Mücken als tote Insekten an meinem
       Kühlergrill. Es werden immer mehr von den Biestern. Blut spritzt, denn
       einige hatten mich bereits ausgiebig ausgesogen. Es ist ein grausames
       Gemetzel. Ich kann die Leichen nicht entsorgen, dann kämen sofort neue
       herein. Ich habe Stephen-King-Fantasien. Ich fürchte, dass die Nekromanten
       des Nordens diese Wesen sofort wieder zum Leben erwecken werden, dass diese
       Mückenzombies sich alle erheben werden, um mich zu entsaften.
       
       Ich habe gestern sogar auf dem Bildschirm des Laptops den Cursor
       geschlagen, weil ich dachte, es sei eine Mücke. Als ich den PC später
       wieder öffnete, klebte tatsächlich eine tot am Bildschirm! Beim Schließen
       von der Return-Taste erschlagen. So wird Gier bestraft. Die Welt ist
       gerecht.
       
       Ich bin unterwegs auf der Nordlichtroute, auf dem Weg nach Kilpisjärvi, in
       die linke obere Landesecke. Der westlichste Punkt Finnlands. Mein großes
       Töten scheint sich unter den Tieren herumgesprochen zu haben. Da ich mitten
       in eine Rentierherde geraten bin, habe ich beide Fenster geöffnet und
       fotografiere aus dem Auto heraus. Eine Mücke kommt herein und fliegt zum
       anderen Fenster sofort wieder heraus. Ha! Der Schisser.
       
       Ich frage in Klipisjärvi direkt bei Ankunft eine Finnin: „Was macht ihr
       gegen die Biester?“ – „Eigentlich nichts. Wenn sie gestochen haben, gehen
       wir in die Sauna!“ Ich beschaue mir mit schlechtem Gewissen das Blutbad um
       den Fahrersitz. Die Mücken einfach machen lassen, das ist für mich nun die
       höchste zivilisatorische Stufe, nur vom Finnen erreicht. Ich nenne es
       „Finnisches Zen“.
       
       5 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernd Gieseking
       
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