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       # taz.de -- Eintauchen bei den Gehörlosen: Zwischen Genozid und Cyborgs
       
       > Gehörlose diskutieren im Netz rege über ihr Verhältnis zum Rest der
       > Gesellschaft. Gibt es ein Recht auf Taubheit? Oder sollte man gleich
       > Cyborg werden?
       
   IMG Bild: Manchmal festigt Technologie nur alte Vorurteile
       
       BERLIN taz | Bei kaum einer Gruppe körperlich Beeinträchtigter ist der
       Unterschied zwischen Selbst- und gesellschaftlicher Wahrnehmung so groß wie
       bei Gehörlosen. Oft als eine Behinderung wahrgenommen, tut sich bei näherer
       Betrachtung eine ausdifferenzierte, [1][selbstbewusste Subkultur] auf, die
       sich mannigfaltig äußert. Und die sich vor der Herausforderung sieht,
       technologische Neuerungen zu absorbieren.
       
       Enno Park hat [2][hier] die Bedingungen der Entstehung einer
       Gehörlosenkultur skizziert. Seit Beginn der modernen Medizin bis in die
       80er des 20. Jahrhunderts sind Gehörlose systematisch ausgegrenzt worden.
       Die Gebärdensprache galt lange Zeit als primitiv und wurde erst 2002
       gesetzlich anerkannt. Im Schatten der gesellschaftlichen Ablehnung
       entwickelt sich eine verhältnismäßig abgegrenzte Parallelkultur, die sich –
       im Gegensatz zum [3][gesellschaftlichen Blick] auf sie – nicht als
       behindert verstand, sondern als [4][sprachliche Minderheit].
       
       Der Wendepunkt war die Entwicklung des Cochleaimplantats vor 30 Jahren,
       weil es damit ein [5][technisches Gerät zur Normalisierung] gab, dessen
       Ablehnung Außenstehende oft als Verweigerung interpretieren (unter anderem,
       weil im Mainstream sehr [6][unrealistische Vorstellungen] von der
       Funktionsweise vorherrschen. Es hat damals zur [7][Spaltung der Community]
       geführt.
       
       Das Gerät ermöglicht es Menschen mit funktionierendem Hörnerv auf ein
       normal entwickeltes Hörzentrum zurückzugreifen, wenn sie Spätertaubte sind
       oder es als Kind eingesetzt bekommen. Denn damit das Implantat
       funktioniert, braucht es ein ausgebildetes Hörzentrum im Gehirn, das sich
       in der frühkindlichen Entwicklung bildet. Daraus ergab sich die Frage, ab
       wann und ob überhaupt Kleinkinder einer mehrstündigen Operation, wie sie
       zur Einsetzung der Prothese notwendig ist, [8][unterzogen werden darf].
       
       Abgesehen von dieser speziellen ethischen Frage, die sich weit ins
       Privatleben der Betroffenen zurückzieht, gibt es das größere, soziologische
       Problem, das vor allem in den USA seine rhetorische Zuspitzung erfahren
       hat. Dass es nämlich, gerade auch für Kinder, [9][ein Recht auf Taubheit]
       gebe, und dass durch technologische Neuerungen und gesellschaftlichen Druck
       [10][ein „Genozid“ an der Community] vollzogen werde. Taubheit sei keine
       Behinderung, also bedürfe es auch keiner Heilung durch das
       Cochleaimplantat. Die Rede vom Genozid ist in Deutschland nicht die Regel,
       [11][kommt aber vor] – beispielsweise als die gehörlose Piratenpolitikerin
       Julia Probst [12][dazu twitterte].
       
       ## Ein Recht auf Implantat?
       
       Tatsächlich dreht die Diskussion bisweilen in die Gegenrichtung, am
       deutlichsten in der Fragestellung, ob Kinder [13][ein Recht auf das
       Implantat] haben. Das vorläufige Argument: Ja, denn „im Fall des CI sind
       die Folgen der Implantation weitgehend reversibel, die der
       Nichtimplantation aber nicht.“ Man könne das Kind in beiden Kulturen
       erziehen, und später könne es sich dann entscheiden, ob es bikulturell
       leben möchte oder sich einem Kreis zuordnen will.
       
       Es sind diese Diskussionen, die schon geführt wurden und die heute noch
       nachbrennen; die aber von Bedeutung sein werden in den Diskussionen, die
       sich jetzt langsam vorbereiten. Denn wenn das Cochlea-Implantat ein
       Werkzeug ist, wessen Werkzeug ist es dann? Wem gehört das
       Cochlea-Implantat, dem Träger oder der Firma, die es produziert?
       
       Was zunächst wie eine juristische Spitzfindigkeit klingt, bekommt eine neue
       Perspektive, wenn man die Frage konkreter stellt: Wer darf die Prothesen
       manipulieren? Sollte es technisch möglich sein, mit dem Cochlea-Implantat
       Ultraschall wahrzunehmen – darf man sein eingesetztes Device hacken, um
       sich diese Fähigkeit anzueignen? [14][Will there be Cyborgs]?
       
       26 Jul 2013
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.taubenschlag.de/Kultur
   DIR [2] http://www.ennomane.de/2013/06/30/gehorlose-das-cochlea-implantat-und-ein-genozid/
   DIR [3] http://www.gehoerlose.de/viewtopic.php?p=18173#p18173
   DIR [4] http://www.gehoerlose.de/viewtopic.php?p=33039#p33039
   DIR [5] http://meinaugenschmaus.blogspot.de/2012/01/der-vorbericht-zu-meinem-standpunkt-zur.html
   DIR [6] http://cochlearimplantonline.com/site/cochlear-implant-on-tv-show-house/
   DIR [7] http://carridwen.de/2012/11/cochlea-implantat-ja-oder-nein/
   DIR [8] http://www.gehoerlose.de/viewtopic.php?f=7&t=1112
   DIR [9] http://www.cochlearwar.com/forum/deaf_view.html
   DIR [10] http://www.insidehalton.com/opinion-story/2899932-cochlear-implants-cultural-genocide/
   DIR [11] http://popcornpiraten.de/technologischer-genozid-an-gehorlosen/
   DIR [12] http://twitter.com/EinAugenschmaus/statuses/348854881941078016
   DIR [13] http://notquitelikebeethoven.wordpress.com/2010/05/08/recht-aufs-elektrische-ohr/
   DIR [14] http://german-cyborg-society.de/?page_id=9
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Frédéric Valin
       
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