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       # taz.de -- Impresario Corny Littmann: Der Polarisierer
       
       > Er stellte sich bis zur Selbstentblößung in den Dienst homosexueller
       > Befreiung, wurde Unternehmer des Jahres. Nicht zuletzt bereitete der
       > Hamburger Theaterchef Corny Littmann der Spaßrepublik den Weg.
       
   IMG Bild: Everybody's Darling oder kollektives Hassventil: Corny Littmann bei den Jubiläumsfeierlichkeiten seines Schmidt Theaters.
       
       HAMBURG taz | Im Grunde dürfte es diesen Mann gar nicht geben. Nicht als
       öffentliche Person, geschweige denn als Star, ein Fernsehstar zumal:
       Cornelius Littmann. Seine Nase ist ein bisschen zu groß und die Mundpartie
       ein wenig zu schief und dann das schüttere Haar. Telegen geht jedenfalls
       anders. Klingt auch anders. Anders – nicht gerade üblich in der deutschen
       Unterhaltungsbranche. Genau das ist sein Erfolgsgeheimnis.
       
       Denn Cornelius Littmann, von allen – sich selbst eingeschlossen – stets
       kumpelhaft Corny genannt, er hat die Andersartigkeit nicht bloß zum Teil
       seiner Persönlichkeit erklärt. Andersartigkeit ist sein Markenkern. Eine
       Art Alleinstellungsmerkmal, das der Theaterintendant und Entertainer,
       Fußballfan und Unternehmenschef, Brachialhumorist und Politaktivist seit
       einer gefühlten Ewigkeit schürt wie kaum ein zweiter am Wahlstandort St.
       Pauli. Corny Littmann ist, wirtschaftsneudeutsch gewendet, seine eigene
       Unique Selling Proposition. Das Vermarktungspotenzial in Person.
       
       Corny Littmann, Professorensohn aus Münster, kann je nach Bedarf alles
       Mögliche sein: Everybody’s Darling und kollektives Hassobjekt, bürgerlich
       oder der Bürgerschreck. Eines jedenfalls kann man ihm auch in seinem 60.
       Lebensjahr kaum nachsagen: Er steckt nicht zurück, nicht vor Feind und vor
       Freund schon gar nicht. Wenn der Christopher Street Day (CSD) in diesem
       Jahr am 3. August durch Hamburg zieht, wird Littmann, das langjährige
       Mitglied des veranstaltenden Vereins, nicht mehr an Bord sein. Denn „einige
       wenige, auch der erste Vorsitzende“, so erklärte er schriftlich, aber
       gewohnt lautstark, wollten an der emanzipatorischen Spaßparade „ihre
       privaten, finanziellen Interessen realisieren“. Das Wort Feigenblatt fiel.
       Auch das der Bereicherung – und Kommerzialisierung. Ausgerechnet.
       
       Denn wer auf dem Hamburger Kiez das Klagelied wider den Kommerz singt, der
       die Kultur seit jeher zu fressen droht, hat spätestens in Strophe zwei den
       Namen Littmanns zwischen den Zähnen. Schließlich begab sich Corny, kaum
       dass sein Vater 1970 einem Ruf an die Hamburger Universität gefolgt war,
       mitten ins Rampenlicht. Er polarisierte.
       
       Schon sechs Jahre später, damals war der preußisch grundierte und
       nationalsozialistisch geprägte Unzuchtsparagraph 175 noch in Kraft, tourte
       der bekennend schwule Littmann mit dem dramaturgisch schwulen Theater
       „Brühwarm“ durchs schwulenfeindliche Land. Und machte sich damit bundesweit
       einen Namen.
       
       Mit dem bewarb er sich 1980 nicht nur erfolglos für ein Bundestagsmandat
       bei den Grünen, sondern gründete kurz vor Helmut Kohls geistig-moralischer
       Wende eine Theatergruppe, die fortan die schwarz-gelbe Vorstellung von
       Mehrheitsgesellschaft gehörig durchrütteln sollte. Und zugleich befeuerte
       sie doch deren Idee einer marktgerechten Entertainmentökonomie. Denn
       Littmanns Theatergruppe „Familie Schmidt“ schoss mit kabarettistischen
       Programmen wie „deutsch, aufrecht, homosexuell“ bis hin zur übersteuerten
       Operettenpersiflage „Im Weißen Rössl“ aus allen Rohren auf die Vorurteile
       des konservativen Mainstreams. Gleichsam sorgte er jedoch auf der
       Reeperbahn für das, was erst viel später als „Gentrifizierung“ zum
       Frontalangriff aufs Revier erklärt wurde. Am 8. 8. 1988 nämlich gründete
       Littmann erst das „Schmidt Theater“, drei Jahre später das benachbarte
       „Schmidts Tivoli“ und schaffte es mit einer Mixtur aus Mehrheitsbespaßung
       und Avantgardekunst zu einem der Großkomödianten der aufkommenden
       Spaßrepublik.
       
       Littmann stellte sich bis zur vollständigen Selbstentblößung in den Dienst
       homosexueller Befreiung und wurde damit zum Hamburger Unternehmer des
       Jahres 1999. Er verkörpert die These: Man könne die Gesellschaft von ihren
       Rändern her aufrollen. Aber zugleich auch die Antithese, dass die
       Revolution nämlich ihre Kinder zu fressen pflegt.
       
       Als sich Littmann 2003 zum Präsidenten des FC St. Pauli wählen ließ,
       rüttelte er erneut die Mehrheitsgesellschaft auf. Dass einer wie er einen
       Bundesligaclub leitet, ist in der Fußballnation, die bis heute kein
       einziges Outing eines aktiven Profis erlebt hat, sensationell.
       
       Den hoch verschuldeten Verein führte Littmann in nur sieben Jahren in die
       schwarzen Zahlen und dann noch das Team aus der dritten in die erste Liga.
       Pünktlich, zum 100. Clubgeburtstag, trat er zurück. Zermürbt von
       Grabenkämpfen, Kleinkriegen und Anfeindungen. Denn Littmann galt als
       Kommerzpräsident, als einer, der den Verein zur Marke gemacht hat. Einer,
       der für den Ballermannkreuzfahrer Aida die Taufpatin castet und sein
       Stadion mit einer Ersatzwährung namens Millerntaler beglücken will. Einer,
       der unermüdlich für die sexuelle Befreiung gleichgeschlechtlich Liebender
       kämpft – und Gerüchte dementieren musste, im kubanischen Trainingslager Sex
       mit Minderjährigen gehabt zu haben. Einer, der jedermanns Freund sein will,
       dann aber jedermanns Feind zu werden scheint.
       
       Das Plenum des autonom besetzten Stadtteilzentrums Rote Flora im
       Schanzenviertel hat dem Großentertainer, der sich selbst immer noch
       „Sozialist“ nennt, erst im April verboten, bei der Veranstaltungsreihe
       „Lesen gegen Atomstrom“ in der Flora ein Lied seines früheren Freundes Rio
       Reiser vorzutragen. In der linken Szene gilt Littmann beinahe als Persona
       non grata. In der Fanszene des FC St. Pauli sowieso. Jemand, der so
       exaltiert agiert, so lautstark, manchmal vulgär, oft komisch, selten dezent
       und nie leise ist, hat es mitunter nicht leicht. Jemand wie Corny Littmann,
       der, ob er will oder nicht, das Polarisieren zum Lebenszweck erhebt, hat es
       eben schwer. Der CSD wird auch ohne ihn auskommen – und Littmann ohne den
       CSD. Und Hamburg? Wäre sicher eine andere Stadt ohne ihn. Ob sie eine
       bessere wäre, bleibt wohl ewig ungeklärt.
       
       22 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Freitag
       
       ## TAGS
       
   DIR FC St. Pauli
       
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