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       # taz.de -- Ulrich Beck über digitales Freiheitsrisiko: „Der Staat ist Opfer und Täter“
       
       > Die digitale Freiheitseinschränkung, die der PRISM-Skandal offenbart, ist
       > unsichtbar. Darin bestehe die Gefahr. Beck plädiert für mehr „digitale
       > Humanität“.
       
   IMG Bild: Kontrolle ist gut, Überwachung ist besser? Ulrich Beck meint: „Formen des Widerstands gewinnen eine Schlüsselbedeutung“.
       
       sonntaz: Herr Beck, sehen Sie im Prism-Skandal eine gesellschaftliche
       Zäsur? 
       
       Ulrich Beck: Ja, hier wird ein neues Kapitel in der Weltrisikogesellschaft
       aufgeschlagen.
       
       In welchem Sinne? 
       
       Natürlich wusste man, dass das Internet hochambivalent Kontrolle und
       weltweiten Protest zugleich ermöglicht. Aber wir haben gerade die
       weltöffentliche Schockgeburt dieses digitalen Freiheitsrisikos erlebt. Das
       Neue, die Katastrophe, die beim Risiko antizipiert wird, wäre hier das
       Unsichtbarwerden des Risikos, in dem die hegemoniale Macht der Kontrolle
       perfektioniert wird. Das ist völlig anders als bei den anderen globalen
       Risiken. Da gab es eine Katastrophe, die passierte, wie Tschernobyl oder
       Fukushima oder ein Terrorattentat. Das war die Katastrophe, auf die das
       Risiko zielte. Hier haben wir die Geburt eines in seiner Konstitution sehr
       labilen Risikos, das noch immer um Anerkennung als Risiko, als mögliche
       Freiheitsgefahr ringt.
       
       Warum wird die Onlineüberwachung kaum als Bedrohung wahrgenommen? 
       
       Das wird deutlich, wenn man es mit den anderen Risiken vergleicht: Beim
       Klimarisiko ging es um die Fragen des Überlebens, also um Tod und Leben als
       zentrales Sicherheitsproblem. Beim digitalen Risiko geht es um den Wert der
       Freiheit, der immer in Konkurrenz zu anderen Sicherheitsrisiken steht. Etwa
       zum Schutz gegen den Terror, der von unterschiedlichen Akteuren
       unterschiedlich bewertet wird. Man muss sich daher fragen: Welche
       Instanzen, welche Akteure nehmen dieses Freiheitsrisiko überhaupt als
       Risiko wahr?
       
       Zum Beispiel? 
       
       Der Staat, den man zunächst vermuten sollte, hat ein sehr ambivalentes
       Interesse. Er ist ja derjenige, der diese hegemoniale Macht in der
       Kooperation mit den neuen Medien errichtet hat. Bei dem Staat ist das nicht
       sicher, da würde man den Bock zum Gärtner machen.
       
       Angela Merkel hat ja die „schwierige Abwägung von Freiheit und Sicherheit“
       beschworen. 
       
       In der Dramaturgie der Sicherheit droht das Freiheitsrisiko unterzugehen.
       Das ist die fundamentale Fragilität dieser globalen digitalen Bedrohung der
       Freiheit: Wir haben eine laufende Revolution der IT-Branche und der
       Kommunikationsmedien in Kooperation mit dem militärisch-industriellen
       Komplex, die permanent die Grund- und Freiheitsrechte relativiert, aushöhlt
       oder aufhebt und gleichsam an der Perfektion dieser Nicht-Katastrophe
       arbeitet.
       
       Also an einem völligen Unsichtbarmachen der Überwachung? 
       
       Alle Risiken haben das Problem, mehr oder weniger unsichtbar zu sein.
       Insbesondere das Klimarisiko: Selbst wenn Naturkatastrophen passieren, ist
       immer unklar, ob sie wirklich im Sinne des menschengemachten Klimawandels
       zu interpretieren sind. Aber hier haben wir es mit der ganz besonderen
       Unsichtbarkeit zu tun, dass es den Katastrophenfall eigentlich nicht gibt.
       Der ist permanent schon als unsichtbare Revolution der technologischen
       Möglichkeiten eingebaut. Aber so unvorstellbar diese neuen hegemonialen
       Kontrollmöglichkeiten sind, so verletzlich sind sie dann wieder auch. Das
       Interessante ist ja, dass die Risikogeburt durch ein Individuum ausgelöst
       wurde.
       
       Durch Edward Snowden. 
       
       Es ist ein Individuum, das aufgrund der Verletzbarkeit dieser hegemonialen
       Kontrollmöglichkeiten das weltöffentlich machen kann und damit erst das
       Risikobewusstsein in Gang setzt.
       
       Das wäre dann das neue Kapitel in der Geschichte der
       Weltrisikogesellschaft? 
       
       Wir sind in einer Phase, in der immer wieder völlig Undenkbares geschieht
       in der Entwicklung der modernen Gesellschaft. All diese Ereignisse, über
       die wir reden, waren, bevor sie eintraten, unvorstellbar. Wir haben heute
       so etwas wie eine totalitär-totale globale Kontrolle, die völlig abgelöst
       ist von den nationalstaatlich demokratischen Kontrollmöglichkeiten, die die
       Gesellschaft bisher über diese Art von Prozessen hatte. Und es gibt dabei
       diese Doppeldeutigkeit, diese Ambivalenz: auf der einen Seite die
       Unvorstellbarkeit dieser neuen Kontrollmöglichkeiten, zugleich aber die
       Unvorstellbarkeit der Verletzlichkeit dieses Systems.
       
       Bei den Enthüllungen Edward Snowdens kam unter anderem heraus, dass der BND
       sehr stark mit der NSA kooperiert. Wie würden Sie den Skandal unter
       nationalstaatlicher Perspektive einschätzen? 
       
       Die Paradoxie ist: Selbst wenn die Institutionen funktionieren, wie dies
       vielleicht in Deutschland der Fall sein könnte, versagen sie. Wir haben ein
       vorbildliches Grundgesetz, wir haben eine ganze Reihe von Institutionen,
       die dieses Grundgesetz schützen, Bundesverfassungsgericht,
       Datenschutzbeauftragte, Parlamente, Bundesamt für Verfassungsschutz. Alles
       Institutionen, die eigentlich ihre Aufgabe erfüllen, aber durch diese Art
       globaler Kontrolle völlig unwirksam und unwirklich geworden sind, auf einen
       Schlag. Obwohl sie existieren, verfügen sie über keine politischen Mittel,
       um auf diese neuen Bedingungen angemessen zu reagieren. Das ist ganz
       bezeichnend bei globalen Risiken, dass erst einmal die nationalstaatlichen
       Institutionen, auch wenn sie funktionieren, angesichts dieser Gefahr nicht
       greifen und versagen. Das haben wir beim Klimawandel genauso wie bei der
       Finanzkrise und das sehen wir jetzt in neuer Weise auch bei diesem
       digitalen Freiheitsrisiko.
       
       Eine weitere Dimension dieser Form von Überwachung ist ja, dass es sich in
       den USA auch um eine zum Teil sehr enge Kooperation von Politik und
       Wirtschaft handelt. 
       
       Ein ganz wichtiger Gesichtspunkt, der jetzt erst indirekt hervortritt, ist,
       dass gerade das Freiheitsrisiko in besonderer Weise unterschiedlichen
       kulturellen Wahrnehmungen und Bewertungen ausgesetzt ist. Was mich am
       meisten erschüttert hat, ist, dass ausgerechnet Obama, der die Rhetorik der
       Freiheit, der Demokratie und der Minderheiten eigentlich zu den
       Schlüsselmerkmalen seiner Politik gemacht hat, nun offenbar seine
       politische Legitimation dafür hergibt, diese wirklich eklatante
       Freiheitsbedrohung zu legitimieren. Dass die Nation, die Freiheit als die
       Priorität ihres Selbstverständnisses in der ganzen Welt behauptet und auch
       wirklich auf sehr eindrucksvolle Weise dokumentiert hat, vor diesem
       digitalen Freiheitsrisiko kuscht. Ein Friedensnobelpreisträger jagt eine
       Person, die den Friedensnobelpreis wirklich verdient hätte.
       
       Gilt das nicht in abgeschwächter Form auch für die Politik hierzulande, die
       anscheinend den BND in ähnlicher Weise einsetzt und auf die gesammelten
       Daten ihrer Partnerländer zurückgreift? 
       
       Man muss auch sehen, dass, obwohl wir jetzt alle auf die Amerikaner zeigen,
       in vielen anderen Staaten wahrscheinlich Ähnliches geschieht oder versucht
       wird. Da wird eine Doppelmoral sichtbar. Aber gleichzeitig ist die Frage,
       und das merkt man auch an der schwachen Reaktion der Kanzlerin: Wer
       eigentlich schützt unsere Verfassung der Freiheit in Deutschland und
       Europa? Und das ist eben deshalb so beunruhigend, weil das
       Risikobewusstsein außerordentlich fragil ist und sich gegen die schon
       laufende und sich immer perfektionierende Revolution der
       Informationstechnologie erst noch behaupten muss. Das nächste
       Medienereignis, ein neuer Erregungszustand, der von der Überwachung
       ablenkt, und alles verläuft wieder nach business as usual.
       
       Und was wird dann aus informationeller Selbstbestimmung und Privatsphäre? 
       
       Eine ganz wichtige Frage. Der Staat, den wir immer als ersten rufen, um
       darauf zu reagieren, ist in seinem Wesen gerade hochambivalent. Er ist
       zugleich Opfer und Täter in jeder Hinsicht, und wie weit seine Akteure
       zuverlässig und willens sind, um wirkliche Kontrollen durchzusetzen, ist
       offen. Das gilt schon für den nationalen Rahmen. Dann ist die Frage, wie
       weit unsere Verfassungsorgane, beispielsweise der Europäische Gerichtshof,
       mit hinreichender Autonomie und der Möglichkeit ausgestattet sind, um die
       Risiken öffentlich sichtbar zu halten. Auch die Bürger sind in vieler
       Hinsicht ambivalent, weil vielen der Verlust der Freiheit zunächst einmal
       keine Schmerzen bereitet wie die Explosion einer Bombe, die sichtbar ist
       und Verwundete und Tote erzeugt. Die Dramaturgie der Sicherheit in den
       Gesellschaften führt dazu, dass der Verlust der Freiheit unsichtbar ist und
       hingenommen wird. Es gibt auf den ersten Blick keinen fahnenschwingenden
       Optimismus, wie dieses Risiko wirksam und machtvoll Gegenhandeln motivieren
       kann.
       
       Das klingt allerdings stark pessimistisch. 
       
       Ich finde folgende Überlegung wichtig, die bisher noch nicht hinreichend in
       der Öffentlichkeit diskutiert worden ist. Das Erste ist das Beispiel
       Snowden. Diese Handlung macht deutlich, wie verletzlich das System ist,
       trotz seiner Perfektion, und möglicherweise auch gerade aufgrund seiner
       Perfektion. Und dass das System sich gegen diese Nebenfolgen der
       Verletzlichkeit, eben der Möglichkeit, diese Informationssysteme auch zu
       veröffentlichen, mit denselben Mitteln der Kontrolle schwer schützen kann.
       Es wird natürlich alles versucht werden, das zu tun. Wenn das aber so ist,
       dann heißt das, dass zum Beispiel die Formen des Widerstands oder der
       kritischen Praxis im Beruf eine Schlüsselbedeutung gewinnen können.
       
       Können Sie das genauer erklären? 
       
       Wir haben ja ähnliche Diskussionen im Umgang mit Soldaten gehabt, die sich
       auf Befehlsnotstand berufen haben und dann die Menschenrechte verletzt oder
       Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Dagegen sind Gesetze
       formuliert worden, die es ermöglichen, dass Soldaten, die scheinbar oder
       tatsächlich auf Befehl hin Menschenrechte verletzen, zur Verantwortung
       gezogen werden können. Es wäre zu überlegen, ob man nicht in ähnlicher Form
       auch die weltweit wahrscheinlich Millionen Berufstätigen, die permanent
       diese Freiheitsgefährdung als Bestandteil ihrer normalen Berufspraxis
       vollziehen, mit ähnlichen Mitteln vor eine Entscheidungssituation stellen
       könnte. Oder wie weit wir nicht auch einen Freiheitsschutz dieser
       Whistleblower, von denen fast alle profitieren, brauchen.
       
       Und was könnte auf technischer Seite getan werden? 
       
       Eine Möglichkeit wäre, dass wir eine europäische Perspektive entwickeln,
       dass wir andere, durchsichtigere Informationspolitiken entwickeln. Die
       Technik in sich ist ja nicht deterministisch. Die Vorstellung, dass die
       Informationstechnologie von technischen Standards her so und nicht anders
       programmiert werden muss, ist grundfalsch. Das heißt, man könnte in die
       Informationstechnologie sehr viel stärker Zurechenbarkeit und Transparenz
       einbauen. Und es wäre denkbar, dass solche Versuche eben gerade aus einem
       europäischen Freiheitsbewusstsein als besonderes Angebot Europas an die
       Welt gemacht werden.
       
       Was wäre eine globale Perspektive? 
       
       Es geht um das, was man „digitale Humanität“ nennen könnte. Man müsste
       weltweit digitalen Datenschutz und Daten-Menschenfreiheitsrechte
       institutionalisieren und in Abkommen in den entsprechenden institutionellen
       Formen umsetzen und kontrollieren. Das klingt natürlich nach einer großen
       Utopie und sehr unrealistisch. Aber das zu fordern und sichtbar zu machen,
       ist ganz wichtig.
       
       Warum? 
       
       Wenn wir das nicht versuchen, besteht nur folgende Alternative: Entweder
       wird dieses hegemoniale System der Informationskontrolle durchgesetzt und
       das Risiko verschwindet in der Nicht-Wahrnehmung der Katastrophe als
       perfekte Kontrolle, oder aber es kommt zu vereinzelten Widerstandsformen
       (Digital-Guerilla), die zu neuen Arten von nationalen Konflikten führen und
       damit zu einem riesengroßen Hickhack, das aber das Problem nicht löst.
       Deswegen meine ich, dass wir auf die Utopie eines globalen Grundrechts auf
       digitale Freiheit setzen müssen, das auszuformulieren und zu erstreiten
       wäre. Dann bliebe zu klären: Wer formuliert das? Wer setzt das durch? Wer
       hat zuzustimmen? Das sind alles offene Fragen.
       
       21 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tim Caspar Boehme
       
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