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       # taz.de -- Loveparade-Unglück jährt sich: Nicht erinnern, nicht vergessen
       
       > An 30 Minuten im Tunnel kann sich Tanja Mühe erinnern. Drei Stunden
       > Erinnerung fehlen. Traumatisiert ist sie bis heute. Es fehlt an Hilfe.
       
   IMG Bild: Die Trauer endet nicht. Viele Betroffene warten auf Entschädigung, einen Therapieplatz.
       
       DUISBURG taz | Eine Raverin ist Tanja Mühe* nicht. Duisburg 2010 sollte
       ihre erste Loveparade werden, aber sie kommt nie dort an. Im Tunnel zum
       Festgelände ist Endstation. Unter den Techno-Fans bricht eine Massenpanik
       aus, Menschen schreien um ihr Leben, und Mühe ist mittendrin.
       
       Drei Jahre später sitzt die 48-Jährige in einem Schnellrestaurant im
       Duisburger Hauptbahnhof, es läuft billiger Techno. Mühe wirkt angespannt.
       „Mein Zustand ist desolat“, fängt sie leise an zu sprechen. Ihr linker Arm
       krallt sich im rechten fest, als gebe das Halt. Dann erzählt die zierliche
       Frau von dem „Albtraum“, aus dem sie nicht mehr aufwache.
       
       Der Albtraum beginnt am 24. Juli 2010. Tanja Mühe will sich die Loveparade
       nur mal ansehen. Plötzlich steckt sie mit Tausenden in einem Tunnel fest.
       Massenpanik, 21 Menschen sterben, über 500 Menschen werden verletzt. Mühe
       selbst kommt mit einer leichten Gehirnerschütterung davon. Aber psychisch
       erschüttert sie das Erlebte so, dass ihr Hausarzt Anzeichen einer
       Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert. Das ist ein
       Krankheitsbild, das Soldaten und Kriegsteilnehmer häufig aufweisen.
       
       Tanja Mühe kann seit dem Unglück nicht mehr richtig schlafen. Sie befindet
       sich in einem nervösen Dauerzustand, wird schnell aggressiv. In
       Menschenmengen bekommt sie Panik, auch wenn nur jemand hinter ihr steht.
       „Mein Gedächtnis funktioniert bis heute nicht richtig“, sagt Mühe. Immer
       wieder gerät sie beim Reden ins Stocken. Sucht nach Worten und nach Halt.
       
       Einen Partner hat sie nicht, ihre Eltern seien mit ihrem Schicksal ziemlich
       überfordert, berichtet Mühe. Wie viele andere Betroffene kann sie bis heute
       nicht das Unglücksgelände am ehemaligen Güterbahnhof betreten. Zu präsent
       sind noch die Bilder von der Katastrophe. Deshalb kann man Mühe nur in
       gebührendem Abstand am Duisburger Hauptbahnhof treffen.
       
       Am Mittwoch, 24. Juli, jährt sich das Loveparade-Unglück zum dritten Mal.
       Juristisch ist es noch lange nicht aufgearbeitet, viele Betroffene hängen
       in der Luft, warten auf Entschädigung, einen Therapieplatz. Nach
       Schätzungen der „Betroffeneninitiative Lopa 2010 e. V.“ leiden von den
       30.000 Menschen, die bei der Massenpanik in Duisburg dabei waren, 8 Prozent
       an einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder werden in nächster Zeit
       daran erkranken. Das sind über 2.000 Menschen mit ernsten Problemen, für
       die es bei der Stadt Duisburg genau einen Ansprechpartner gibt.
       
       ## Internet-Samariter
       
       Also versuchen sie sich in kleinen Gruppen und in Internetforen selbst oder
       gegenseitig zu therapieren. Das geht nicht immer gut, denn Organisationen
       wie „Massenpanik Selbsthilfe e. V.“ locken auch Spinner an. Manche geben
       sich als Therapeuten aus. Betrüger erhoffen sich etwas vom Geld der
       Versicherer. „Andere spielen sich als Samariter auf“, sagt Mühe. Sadisten,
       Mobber, Rechtsradikale tummelten sich in den Foren, bedrohten sich
       gegenseitig. Vor einer Woche hat sich wieder ein Loveparade-Veteran
       umgebracht.
       
       Trotzdem geht es nicht ohne Selbsthilfe. Viele Betroffene können nicht
       schlafen und brauchen nachts Ansprechpartner. Dann telefonieren sie
       miteinander und chatten über Facebook. Zeit ist da. Tanja Mühe, gelernte
       Pharmareferentin, ist seit dem Unglück dauerhaft krankgeschrieben,
       allerdings drängelt seit Kurzem das Jobcenter. Mühe soll in eine „Maßnahme“
       zur Arbeitsvermittlung. „Schlucken Sie mal ein paar Pillen, dann können sie
       weiterarbeiten“, habe der Medizinische Dienst vom Amt geraten.
       
       „Mittlerweile sind alle Hartz IV“, sagt Jörn Teich. Der 39-Jährige ist
       sozusagen der Chef-Samariter. Wer etwas über die Opfer des
       Loveparade-Unglücks erfahren will, der landet schnell bei Teich. Mit seinem
       Smiley-T-Shirt, den gefärbten Haaren und dem müden Gesicht sieht er aus,
       als käme er gerade von einer Techno-Afterhour. „Ich bin ein Raver“, sagt
       Teich mit morbidem Enthusiasmus. Er war schon bei den Loveparades in den
       90ern in Berlin dabei. Dann kam Duisburg und die Loveparade fand ihr jähes
       Ende. Jörn Teich aber fand eine neue Leidenschaft: Er wurde der große
       Kümmerer.
       
       ## Ein Möbelhaus soll dort entstehen
       
       Bei ihm laufen alle Einzelschicksale des Unglücks zusammen wie bei einem
       Oberarzt die Patientenakten – mit dem Unterschied, dass Teich selbst ein
       Opfer ist. Manche nennen ihn Sprecher der Überlebenden, er selbst findet
       „Betroffener“ passender. Er habe auch eine schwere PTBS, sagt Teich. Dafür
       wirkt er allerdings sehr cool. „Ich bin cool“, sagt Teich. Seine Taktik ist
       wohl, den Schmerz zu verdrängen.
       
       Morgens fährt er Lkw, nachmittags kümmert er sich ehrenamtlich um die
       Loveparade-Opfer. Dazu gehört für ihn der tägliche Besuch am Unglücksort.
       Drei Jahre danach sei noch „nichts geregelt“, sagt Teich. Er klingt gar
       nicht resigniert, eher wie ein gestresster Manager. „Ich bin jeden Tag am
       Powern.“
       
       Der Unglücksort am ehemaligen Güterbahnhof ist still und leer. Nur zwei
       polnische Bauarbeiter klopfen Steine. Ein Teil der Rampe wird zur
       Gedenkstätte hergerichtet, rundum ist viel mit Sand zugeschüttet worden.
       Auf dem Areal soll ein Möbelhaus entstehen, der Güterbahnhof wird bald
       abgerissen. Der Bauarbeiter kniet genau dort, wo vor drei Jahren die toten
       Raver lagen. Auf der kleinen Treppe, auf der die Menschenmassen zu
       entkommen versuchten, stehen ein Kreuz und ein Grablicht. Jeder kennt die
       dramatischen Szenen aus dem Fernsehen. Selbst dort zu sein, fühlt sich auch
       für Unbeteiligte beklemmend an.
       
       Hier habe Tanja gestanden, sagt Teich und stellt sich in den dunklen
       Tunnel, etwa zehn Meter von der Rampe entfernt. Wer beim Unglück wo stand,
       ließ sich gut rekonstruieren, im Netz kursieren viele Fotos und Videos. So
       weiß Teich nicht nur, wo er sich selbst befand – er brach sich in dem
       Gedränge mehrere Rippen. Sondern er weiß auch, wo andere standen. Und
       lagen.
       
       ## „Da ist nichts“
       
       Tanja Mühe geht am Morgen des Unglückstags arbeiten, danach fährt sie zur
       Loveparade. Unterwegs lernt sie einen Begleiter kennen, doch im Tunnel
       verlieren sie sich im Gedränge. Es wird immer enger, die Menschen schreien.
       „Ich habe gar nichts mehr gesagt“, sagt Mühe. Sie erinnert sich nur an 30
       Minuten. Videos und Bilder zeigen aber, dass sie sich dreieinhalb Stunden
       im Tunnel aufgehalten haben muss.
       
       Irgendwann lichten sich die Massen und es kommen tote Menschen zum
       Vorschein. Direkt vor Mühe versuchen Polizisten, einen leblosen Raver zu
       reanimieren. Sie hält seine Hand, bis die Beamten aufgeben und eine Decke
       über den Teenager legen. „Dabei habe ich sie aufgefordert weiterzumachen“,
       sagt Mühe. Ein Polizist habe noch gesagt, die tödlich Verunglückten seien
       sowieso an ihrem Drogenkonsum gestorben.
       
       Tanja Mühe macht inzwischen die zweite Psychotherapie. Die erste brach die
       48-Jährige ab, als sich herausstellte, dass die Therapeutin nicht auf die
       Behandlung von PTBS spezialisiert war. Jetzt fährt Mühe alle zwei Wochen
       nach Mülheim an der Ruhr. Eigentlich müsste sie jede Woche hin, aber dafür
       fehlt ihr das Geld. Von ihrer Krankenkasse erhielt die Arbeitslose anfangs
       gar keine Unterstützung.
       
       Erst Ende 2012 schlug die Kasse eigene Therapeuten vor, die alle nicht auf
       PTBS spezialisiert waren. Also lehnte Mühe sie ab. Regelmäßig schlägt sie
       sich mit Behörden herum. Mindestens 50 Therapiestunden hält sie noch für
       notwendig. Fraglich ist, ob sie so viel Geld aufbringen kann. Die
       Notfallseelsorge half nur vorübergehend mit Spendengeldern. Wie sieht sie
       die Zukunft? „Da ist nichts“, sagt Mühe resigniert.
       
       ## Rechte sind noch beim Veranstalter
       
       Nächste Woche, am Jahrestag, wollen die Teilnehmer von 2010 der Katastrophe
       im Stillen gedenken und den Unglücksort besuchen. Es kommen Angehörige und
       Betroffene aus ganz Deutschland, in einem Hotel am Hauptbahnhof hat Jörn
       Teich 20 Zimmer angemietet. Eschede, Ramstein, Erfurt: Teich zieht
       Parallelen zu den Orten anderer großer Tragödien in Deutschland.
       
       Zur „Nacht der 1.000 Lichter“ will auch Dr. Motte anreisen, der Erfinder
       der Loveparade, er nennt sich jetzt „The Father of the Loveparade“. Seit
       2010 in Duisburg ist die Marke Loveparade tot. Die Rechte besitzt
       Veranstalter Rainer Schaller, Gründer der Fitnesskette „McFit“, immer noch.
       Schaller verdiene weiterhin Geld mit diesen Rechten, sagt Opfer-Sprecher
       Teich. Stimmt das? Schaller selbst will sich auf Anfrage nicht äußern. Sein
       Sprecher kündigt zunächst eine Stellungnahme an, meldet sich dann aber
       nicht mehr. Dafür wird jeder Anrufer von der Fitnesskette ungefragt geduzt.
       Das gehöre zur „Unternehmensphilosophie“, sagt eine Mitarbeiterin.
       
       Wann es endlich zu einem Verfahren kommt, ist unklar. Vielleicht im Herbst
       2013, vielleicht Anfang 2014. Die Duisburger Staatsanwaltschaft ermittelt
       gegen 16 Beschuldigte. Schaller ist nicht darunter. Wer schuld ist an dem
       Unglück sei im Grunde auch egal, meint Tanja Mühe. Sie müsse zusehen, dass
       sie endlich gesund werde. „Wer für was verurteilt wird, spielt für meine
       Genesung keine Rolle.“ Ganz anders sehen das die Angehörigen, die bei dem
       Unglück einen Sohn oder eine Tochter verloren haben. Sie wollen Sühne. Und
       das sei das Grundproblem, sagt Kümmerer Jörn Teich: Die Angehörigen wollten
       auf ewig erinnern, die Betroffenen endlich vergessen. „Ich glaube, wir
       schaffen beides nicht.“
       
       * Name geändert
       
       24 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Haiko Prengel
       
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