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       # taz.de -- Debatte Helmpflicht für Radfahrer: Gefährlicher Kopfschutz
       
       > Erst wenn viele Radfahrer auf der Straße sind, nehmen Autofahrer auch
       > Rücksicht auf sie. Der Helm bewirkt bewiesenermaßen das Gegenteil.
       
   IMG Bild: Muss ich den dann den ganzen Tag mitschleppen? Viele werden sich dagegen entscheiden
       
       Die Helmpflicht macht das Fahrradfahren nicht sicherer, sondern
       gefährlicher. Das mag überraschen – ist aber nachgewiesen und Konsens in
       der Unfallforschung.
       
       Nachdem in Australien die Helmpflicht eingeführt worden war, nahm das
       Fahrradfahren bei jungen Menschen um 30 Prozent ab. Zugleich stieg das
       Unfallrisiko für die verbliebenen Radfahrer beträchtlich. Je weniger
       Radfahrer auf der Straße sind, desto rücksichtsloser wird das Verhalten der
       Autofahrer.
       
       In Vancouver, wo es auch eine Helmpflicht gibt, tragen daher inzwischen
       viele T-Shirts mit dem Spruch: „I wear a helmet so that you can drive like
       an idiot“ („Ich trage einen Helm, damit du wie ein Idiot fahren kannst“).
       
       Auch der Verkehrspsychologe Ian Walker von der Universität Bath hat
       mithilfe von Selbstversuchen festgestellt, dass er häufiger mit höherer
       Geschwindigkeit und geringerem Abstand überholt wurde, wenn er einen Helm
       trug. Wohl unbewusst handeln Autofahrer nach dem Motto: Dieser Radler ist
       ja geschützt, da braucht man keine Rücksicht zu nehmen. In den USA tragen
       38 Prozent der Radler einen Helm, in den Niederlanden 0,1 Prozent. Trotzdem
       werden in den USA auf der gleichen Distanz zehnmal so viele getötet wie in
       den Niederlanden, wo das Fahrrad das nationale Fortbewegungsmittel Nummer
       eins ist.
       
       Viele Städte in Europa fördern eine bessere Fahrradkultur, indem sie ein
       stadtweites Leihfahrradsystem einführen. Nicht nur in Amsterdam und
       Kopenhagen, auch in Brüssel und Paris kann man beobachten, dass die
       Unfallzahlen abnehmen, je mehr Fahrradfahrer auf der Straße unterwegs sind.
       
       Auch deutsche Städte führen zunehmend solche Leihsysteme ein. Die
       Helmpflicht würde allerdings die Attraktivität eines solchen Angebots
       massiv verringern, da der verpflichtende Helm extra vor einem Diebstahl
       geschützt werden müsste.
       
       Und dann wären da noch die Kurzstreckenradler. Die zwei Kilometer bis zur
       nächsten Haltestelle von U-, S- oder Straßenbahn nur mit Helm? Muss ich den
       dann den ganzen Tag mitschleppen? Viele werden sich dagegen entscheiden.
       
       ## Nur subjektiv sicherer
       
       Radler, die sich mit einem Kopfschutz besser geschützt fühlen, sollen
       diesen natürlich tragen. Die Kritik richtet sich allein gegen die
       Helmpflicht. Denn wir wissen auch: Man fühlt sich als Radler auf
       Gehweg-Radwegen ebenfalls subjektiv sicherer, obwohl diese – statistisch
       belegt – besonders unfallträchtig sind und die Gefahr objektiv riesengroß
       ist.
       
       Die Geschichte einer Mutter, die in Berlin hinter ihrem Kind auf einem
       Gehweg-Radweg radelte und mit ansehen musste, wie es von einem
       rechtsabbiegenden Auto getötet wurde, ist unvergessen. Grundsätzlich gilt:
       Mehr als die Hälfte der tödlichen Radunfälle geht auf Kollisionen mit
       rechtsabbiegenden Lkws zurück.
       
       Wer tatsächlich die Sicherheit erhöhen will, der integriert Radstreifen auf
       der Fahrbahn. Sie erhöhen die Sicherheit, weil die Sichtbeziehung der
       Verkehrsteilnehmer entscheidend ist. Auch deshalb werden in Berlin seit
       einigen Jahren anstelle der Gehweg-Radwege nur noch Fahrradstreifen auf der
       Fahrbahn markiert (kostengünstiger sind sie auch).
       
       Das Konzept „Radweg = Rad weg von der Straße“ hat nach mehr als 20-jähriger
       Gültigkeit zum Glück ausgedient, und zwar in vielen Städten und Gemeinden.
       
       ## Unschuldig verurteilt
       
       Noch ist das Tragen eines Helmes gesetzlich nicht vorgeschrieben, und auch
       Verkehrsminister Ramsauer (CSU) lehnt das ab. Das Oberlandesgericht
       Schleswig hat jedoch am 5. Juni 2013 einer Radfahrerin eine Mitschuld von
       20 Prozent an ihren schweren Kopfverletzungen gegeben, weil sie keinen Helm
       getragen hatte. Am eigentlichen Unfall trug sie keine Schuld.
       
       Sie fuhr an einem parkenden BMW vorbei, als die Fahrerin plötzlich die
       Wagentür öffnete, ohne in den Rückspiegel zu sehen. Ob das Gericht bei
       einem Fußgänger oder Autofahrer im Cabriolet ähnlich urteilen würde, wenn
       auch hier ein Helm die Unfallfolgen reduziert hätte? Wohl kaum.
       
       Sollte sich nun nach diesem Urteil die neue Rechtsauffassung durchsetzen,
       dann müssten Radfahrer bei jedem Unfall ohne Helm damit rechnen, eine
       Mitschuld zu bekommen und die Behandlungskosten für ihre Verletzungen
       selbst zu tragen. Das wäre die Helmpflicht durch die Hintertür über die
       Versicherungen und die Gerichte – aber nicht durch das gesetzgebende
       Parlament.
       
       ## Berlin: im Schnitt 19 km/h
       
       Natürlich ist es wichtig, Unfallfolgen zu mildern. Noch besser ist es aber,
       Unfälle zu reduzieren, von denen sich fast drei Viertel innerhalb von
       Ortschaften ereignen. Dabei werden ein Drittel durch überhöhte
       Geschwindigkeit verursacht. Wer Unfälle vermeiden will, sollte deshalb die
       Geschwindigkeit senken.
       
       Das Europäische Parlament hat 2011 mit großer Mehrheit den zuständigen
       Behörden „nachdrücklich empfohlen“, in Stadtgebieten „generell eine
       Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h vorzuschreiben“. Diesem Antrag haben alle
       deutschen Abgeordneten zugestimmt – auch die von CDU, CSU und FDP.
       
       In Berlin etwa liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit ohnehin nur bei 19
       km/h. Da in deutschen Städten – so Peter Ramsauer – 90 Prozent aller
       Autofahrten kürzer als 6 (!) Kilometer sind, ist ein Zeitverlust quasi
       nicht existent.
       
       ## Die Geschwindigkeit ist das Problem
       
       Umso größer ist aber der Sicherheitsgewinn. Allein mit Tempo 30, das den
       Bremsweg von 28 auf 14 Meter halbiert, ließen sich die Unfallzahlen um 42
       Prozent verringern.
       
       Bei einem Zusammenprall – in drei Viertel dieser Unfälle ist der Autofahrer
       schuld – werden bei Tempo 30 nur 10 Prozent der schwächeren
       Verkehrsteilnehmer, bei Tempo 50 aber 80 Prozent getötet.
       
       In vielen deutschen Städten gilt auf der Mehrheit der Straßen Tempo 30, in
       Berlin ist dies gar auf fast 80 Prozent der Straßen vorgeschrieben. Gälte
       das als Regelgeschwindigkeit, müssten nur die verbliebenen Tempo 50-Straßen
       ausgeschildert werden. Der Schilderwald wäre gelichtet, die Akzeptanz
       größer, die Kosten gesenkt und die Sicherheit spürbar erhöht.
       
       Es wäre so einfach und nicht einmal teuer, sondern billiger, Fahrradfahrer
       zu schützen. Und doch geht die Entwicklung in die andere Richtung.
       
       16 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Cramer
       
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