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       # taz.de -- Das Schlagloch: Hungern und spirituelle Intensität
       
       > Ramadan hat auch eine wichtige ethisch-solidarische Seite: Geben und sich
       > selbst zurücknehmen, damit Raum für alle ist. Aber es gibt auch
       > Wundergeschichten, die nerven.
       
   IMG Bild: Lecker Datteln: gibt's erst nach Sonnenuntergang.
       
       Der Ramadan hat begonnen. Jedenfalls für viele Muslime, für andere fängt er
       erst noch an. Dass die exakte Zeit des Ramadan von Jahr zu Jahr und dann
       auch noch geografisch variiert, mag etwas verwirren: Bekanntlich wandert
       der Ramadan durchs gregorianische Kalenderjahr und beginnt so gesehen jedes
       Jahr anderthalb Wochen früher. Das erklärt sich dadurch, dass sich das
       islamische Jahr am Mondzyklus orientiert, und 12 Mondzyklen sind
       zusammengenommen eben kürzer als ein Sonnenjahr (dessen Monaten 30 oder 31
       Tage zugeteilt wurden).
       
       Im islamischen Mondjahr beginnt jeder Monat mit dem Erscheinen der neuen
       Sichel, genannt: Hilal. Das hatte ursprüngliche ganz praktische Gründe: Der
       Neumond ist die Zeit ohne (sichtbaren) Mond, und das Auftreten der ersten
       schmalen Sichel danach ist innerhalb des Mondzyklus das einzige fürs Auge
       eindeutige Zeichen. Man braucht kein Fernglas, man braucht keine Kenntnisse
       der Astronomie.
       
       Allerdings findet diese erste Mondsichtung faktisch rund um den Globus an
       unterschiedlichen Tagen statt. Daher hat sich diese praxisorientierte
       Regelung für die Angehörigen einer modernen Weltreligion inzwischen als
       etwas unpraktisch herausgestellt, und schon seit Jahren versuchen sich
       Muslime verschiedener Länder (und innerhalb Deutschlands) auf einen Termin
       zu einigen. Doch es klappt nie ganz. Immer beginnt etliche Tage vorher ein
       engagiertes astronomisches und theologisches Hin und Her, wann der Ramadan
       „wirklich“ beginne. Das ist müßig, aber auch irgendwie charmant.
       
       Dazu muss man wissen: Muslime fürchten den Ramadan nicht als Monat des
       Hungerns, sondern wir freuen uns auf die mit ihm einhergehende spirituelle
       Intensität. Technisch gesehen bedeutet das islamische Fasten zunächst: Kein
       Essen und kein Trinken von vor Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Ja, auch
       kein Trinken. Und jetzt bitte nicht wieder dieser Einwand: „Aber kann das
       gesund sein?“ Es nervt. Milliarden Muslime fasten im Ramadan seit
       Jahrhunderten. Für Kranke und Menstruierende, Schwangere und Stillende,
       Reisende und Schwerstarbeiter gibt es Ausnahmeregelungen. Kinder fasten
       nicht. Niemand soll so fasten, dass er oder sie Körper oder Geist damit
       schädigt.
       
       Was allerdings auch nervt, sind die vielen Wundergeschichten. Vergangenes
       Jahr fiel die Olympiade in den Ramadan; es häuften sich herzbewegende
       Berichte von Muslime, die trotz strengsten Fastens einen Rekord nach dem
       andern aufstellten … angeblich. Ich schreibe „angeblich“ nicht, weil ich
       diese Menschen der Lüge bezichtige, sondern weil ich es schlimm finde, dass
       der soziale Druck so groß ist, dass man anderen Menschen die Wahrheit
       vielleicht gar nicht mehr erlaubt. Mehr als Aufrichtigkeit und gegenseitige
       Milde wünscht man sich die Heldenverehrung; Sportler sind dazu wunderbar
       geeignet.
       
       ## Schreiben und Fasten
       
       Dies ist eine gute Gelegenheit zu „gestehen“: Ich selbst bin gar nicht so
       geübt im Fasten. Noch keinen einzigen Ramadan habe ich so gefastet, wie man
       sollte, also alle Tage, mit allen Gebeten und unter Einhaltung aller
       Zeiten. Letztes Jahr habe ich zum Beispiel nur von Mittag bis
       Sonnenuntergang gefastet; so konnte ich tagsüber noch arbeiten, was mir
       sonst nicht gelingen will. Wegen der Unterzuckerung oder weil ich zu
       schwach bin, wer weiß.
       
       Und selbst das Halbtagsfasten war mir Aufgabe genug! Acht Stunden sind ganz
       schön lang, wenn man nichts isst und nichts trinkt. Einem wird bewusst, wie
       oft man sonst in die Küche rennt. Ein Tee, ein paar Kekse, die Reste vom
       Mittagessen. Man sitzt also da ohne diese kleinen Befriedigungen einer
       Leere, die vermutlich gar nicht wirklich Hunger ist – eher Genervtsein,
       Langeweile, Nicht-weiterarbeiten-Wollen. Diese Leere auszuhalten ist nicht
       einfach, zumal viele Muslime während der Fastenzeit auch nicht fernsehen,
       weniger online gehen oder sonstige Ablenkungen meiden. Diese Zeit gehört
       der Seele, der Koran-Lektüre, dem Gebet.
       
       Im Übrigen: Wer wegen meines ungenügenden Fasten schlecht von mir denken
       will, der tue es. Allerdings wird kein frommer Muslim deswegen schlecht von
       einem anderen denken, damit verdirbt er sich nämlich selbst die Verdienste
       des Fastens. Ein wirklich frommer Mensch beschäftigt sich nicht mit den
       Verfehlungen der anderen, er hat mit dem Dschihad gegen sich selbst schon
       genug zu tun. Dschihad: ein Ringen, ein Bemühen, manchmal ein Kampf gegen
       überschießende Begierden, die Selbstsucht.
       
       ## Ramadan schützt mich vor mir
       
       „Ein guter Muslim ist der, vor dessen Hand und Zunge andere sicher sind“,
       besagt ein bekannter Hadith (Prophetenwort). Also: Wir sollen nicht
       schlecht von anderen reden. Am besten gar nicht über Dritte reden. Auch
       nicht schlecht von ihnen denken. Konstruktiv an etwaige Konflikte
       herangehen, versöhnlich. Wenn uns jemand angreift, nicht zurückschlagen
       oder –keifen, sondern sagen: „Ich faste.“ „Das Fasten ist ein Schutz für
       Euch“, sagt ein anderer Hadith. Ein Schutz nicht so sehr vor anderen,
       sondern vor sich selbst; vor Aggressionen, Konkurrenzverhalten; davor, zu
       viel zu wollen und gar nicht zu sehen, wie viel bereits da ist.
       
       Ramadan heißt auch: freiwillig zu verzichten, um Dankbarkeit zu erlernen.
       Hunger und Durst am Tage sollen uns Anteilnahme mit denjenigen lehren, für
       die Entbehrungen im ganzen Jahr normal und unfreiwillig sind. Das während
       des Ramadan Ersparte wird später, am Monatsende, in Form von „Zakat“
       („Almosensteuer“) an Arme gespendet; wer nicht fasten kann, gibt jeden Tag
       eine „Fidya“, Geld zum Speisen eines Bedürftigen. Denn der Ramadan hat auch
       eine ganz wichtige ethische, eine solidarische Seite.
       
       Und ist das nicht auch ein Gedanke, der gut in die Zeit extremer
       Wohlstandsgefälle, Umweltzerstörung und Ressourcenverschleuderung passt?
       Verzicht nicht um seiner selbst willen, sondern um etwas abzugeben. Sich
       selbst zurücknehmen, damit Raum für alle ist. Die Erde wird nicht etliche
       Milliarden Menschen dauerhaft gut beherbergen können, wenn wir von dieser
       Solidarität nicht auch etwas in den säkularen Alltag übernehmen.
       
       10 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hilal Sezgin
       
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