URI: 
       # taz.de -- Gedenken an die Opfer von Sivas: Aufklärung verhindert
       
       > Tausende Aleviten erinnern an den 20. Jahrestag eines Pogroms mit 35
       > Toten. Die Hintermänner der Tat sind bis heute unbekannt.
       
   IMG Bild: Protestaktion vor der türkischen Botschaft in Berlin anlässlich des Massakers in Sivas vor 20 Jahren.
       
       ISTANBUL taz | Tausende Aleviten aus aller Welt gedachten am Dienstag in
       Sivas eines Massakers, das vor genau 20 Jahren in dieser
       zentralanatolischen Stadt stattgefunden hat. Während die Demonstranten auf
       dem zentralen Platz der Stadt an die Toten von 1993 erinnerten, waren 2.500
       Spezialeinheiten der Polizei im Einsatz, die die Stadt abriegelten und
       jeden Teilnehmer durchsuchten. Angeblich sollten dadurch neuerliche
       Provokationen verhindert werden.
       
       Damals war eine Kulturveranstaltung, an der überwiegend Aleviten, aber auch
       kritische Intellektuelle unterschiedlicher Konfessionen teilnahmen, von
       einem islamistischen Mob angegriffen worden.
       
       Weil die Polizei die Veranstaltung kaum schützte, konnten die Islamisten
       das Hotel, in dem die Tagung stattfand, in Brand setzen. Dabei kamen 35
       Menschen ums Leben.
       
       Die Islamisten hatten unter anderem die Anwesenheit des bekennenden
       Atheisten und bekannten Schriftstellers Aziz Nesin zum Vorwand genommen, um
       das Hotel anzugreifen. Die alevitischen Gemeinden beklagen bis heute, dass
       die Bestrafung der Täter unzureichend war und vor allem nie aufgeklärt
       wurde, wer eigentlich die Hintermänner des Pogroms waren.
       
       Zwei Jahre nach dem Massaker kam erstmals mit Necmettin Erbakan ein
       islamistischer Premier für ein Jahr an die Macht, dessen Regierung die
       juristische Aufklärung von Sivas nach Kräften hintertrieb. Etliche
       Angeklagte wurden auf freien Fuß gesetzt und konnten fliehen, einige sollen
       sogar Asyl in Deutschland bekommen haben.
       
       Ali Nesin, der Sohn des Schriftstellers, sagte der Hürriyet Daily News am
       Dienstag, sein Vater sei zwei Jahre nach den Vorfällen auch deshalb
       gestorben, weil er nicht darüber hinwegkam, als Anlass für das Massaker
       genannt worden zu sein. Ali Nesin sagte: „Zwar sind einige Täter von Sivas
       verurteilt worden, doch die Hintermänner sind nach wie vor im Dunkeln.“
       
       Die Aleviten in der Türkei werden bis heute diskriminiert und von vielen
       Sunniten als Häretiker beschimpft. Entstanden sind die alevitischen
       Gemeinden im 13. Jahrhundert aus einer Mischung des Schiismus und den
       Lehren anatolischer Mystiker. Im Osmanischen Reich wurden sie vielfach
       verfolgt und als fünfte Kolonne der persischen Feinde angesehen.
       
       Seit der Republikgründung und Abschaffung des Kalifats verbesserte sich ihr
       Status, weil mit den Reformen Atatürks der Staat offiziell laizistisch
       wurde. Die Aleviten gelten deshalb bis heute als überwiegende Anhänger des
       Kemalismus und der kemalistischen Partei CHP.
       
       Mit dem Wahlsieg der AKP 2002 ist erstmals in der türkischen
       Republikgeschichte wieder eine sunnitisch-islamische Partei mit absoluter
       Mehrheit an der Regierung, was bei den Aleviten erhebliche Ängste ausgelöst
       hat.
       
       Zwar hat Ministerpräsident Tayyip Erdogan während seiner über zehnjährigen
       Regierungszeit einige halbherzige Versuche gemacht, das Verhältnis der AKP
       zu den fast 20 Millionen Aleviten in der Türkei zu verbessern, doch
       scheiterten diese Anläufe bislang immer am sunnitischen Dogmatismus der
       Partei.
       
       Unmittelbar vor dem 20. Jahrestag von Sivas lancierten nun mehrere
       Zeitungen die Meldung, die Regierung bereite ein neues Gesetz vor, das
       endlich auch die Gebetsräume der Aleviten als religiöse Stätten anerkannt
       und durch ein Gesetz privilegiert werden sollen.
       
       Allerdings haben Erdogan und seine Mannschaft erst unlängst wieder ihre
       Ignoranz gegenüber den Aleviten demonstriert, als sie verkündeten, die 3.
       Brücke über den Bosporus solle nach Sultan Selim I. benannt werden. Gerade
       dieser Sultan gilt als schlimmster Schlächter der Aleviten.
       
       2 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Türkei
   DIR Aleviten
   DIR Schwerpunkt Türkei
   DIR Nordrhein-Westfalen
   DIR Schwerpunkt Türkei
   DIR Reyhanli
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR „Sanfter Putsch“ in der Türkei: Generäle vor Gericht
       
       Im Jahr 1997 zwangen türkische Militärs die islamistische Regierung
       Erbakans zum Rücktritt. Jetzt müssen sich dafür mehrere Generäle vor
       Gericht verantworten.
       
   DIR Kommentar Pro-Erdogan-Demo: Instrumentalisierte Migranten
       
       Nicht nur die Erdogan-Gegner, sondern auch dessen Unterstützer gehen in der
       Bundesrepublik auf die Straße. Das ist befremdlich.
       
   DIR Proteste in Istanbul: Der kranke Mann am Bosporus
       
       Regierungschef Erdogan hat auf dem Taksim-Platz einen Pyrrhussieg erreicht.
       Die Zeit autoritärer Patriarchen in der Türkei neigt sich dem Ende zu.
       
   DIR Attentate in der Türkei: Eine Kleinstadt in Angst und Wut
       
       Die Anschläge spalten die Einwohner der Grenzstadt Reyhanli. Viele machen
       die türkische Regierung verantwortlich, andere die syrischen Flüchtlinge.
       
   DIR Türkischer Botschafter in Deutschland: „Wir haben mehr Fragen als zuvor“
       
       Noch immer fühlen sich viele Migranten bedroht, sagt der türkische
       Botschafter Hüseyin Karslioglu. Der deutsche Staat könne mehr dagegen tun.
       
   DIR Angriff auf Aleviten: Mob vor der Tür
       
       Eine alevitische Familie wird von sunnitischen Muslimen in Tempelhof
       bedroht.
       
   DIR Hintergrund der Proteste in Bochum: Erdogan und die Last von Sivas
       
       Neun mutmaßliche Mittäter des Pogroms von Sivas genießen Asyl in
       Deutschland. Strafrechtliche Verfolgung müssen sie nicht mehr fürchten.
       Ihre Taten sind nun verjährt.