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       # taz.de -- Rock-Avantgarde: Der Arsch des Universums
       
       > Gleich zwei Mal spielt Thurston Moore, eines der Gesichter der New Yorker
       > Rock-Avantgarde, in Hamburg – in einer Zeit, da er sich auch schon mal
       > als Ehebrecher beschimpfen lassen muss.
       
   IMG Bild: Freier Rock und glossolalische Ekstase: Yoko Ono und Thurston Moore treten im August in Hamburg auf.
       
       Ein Thurston Moore muss, wie ein Lothar Matthäus, keine Interviews geben.
       Es wird auch so über ihn geschrieben – mehr als ihm in den letzten Monaten
       lieb war. Denn zu tun hat die aktuelle Aufmerksamkeit nichts mit der Musik,
       seiner neuen Band Chelsea Light Moving oder irgendeiner anderen
       kreativen/künstlerischen Aktivität. Thema sind noch nicht mal Sonic Youth:
       Seit der Trennung des öffentlich gern als „First Couple of Indie Rock“ und
       „Punk Rock Royalty“ gegeißelten Ehepaars Kim Gordon/Thurston Moore ist die
       Zukunft der über lange Jahre gemeinsamen Band ungewiss.
       
       Doch diese Trennung beschäftigt die Medien heute mehr denn je: Für den
       aktuellen Shitstorm lieferte Kim Gordon höchstpersönlich die Munition. In
       einem Interview mit der amerikanischen [1][Elle] verriet sie im Mai, dass
       hinter allem eine andere Frau stecke. „Thurston machte einfach damit
       weiter, dieses ganze Doppelleben mit ihr zu führen“, erinnert sich Gordon.
       „Er erschien wirklich wie eine verlorene Seele.“
       
       Der Rolling Stone fordert im ersten [2][Artikel] über Chelsea Light Moving
       einen Kommentar von Moore – und bekommt prompt die zu erwartende Abfuhr:
       „Darüber spreche ich nicht. Es gibt keinen einzelnen Aspekt, über den ich
       jemals sprechen werde.“
       
       Zur Hatz bläst dafür das Online-Magazin Jezebel.com: [3][Hier] werden die
       einzelnen Hinweise aus Gordons Elle-Interview destilliert, analysiert und
       interpretiert – blitzschnell steht die Schuldige fest. Nach alter
       Boulevard-Manier verpackt die Headline den Jagdaufruf in der juristisch
       wasserdichten Frageform: „Is This the Woman Who Broke Up Kim Gordon and
       Thurston Moore?“ Nicht blenden ließen sich die aufrechteren Feministinnen
       unter den Jezebel-Leserinnen, wortmächtig beschwerten sie sich über die
       Zurschaustellung jener Frau als Ehe zerstörende Schlampe; in Amerika
       spricht man in diesem wie in anderen Zusammenhängen gern vom
       „Slut-shaming“.
       
       Sollten wir überhaupt noch erwähnen, dass Moores Neue beim ersten Video von
       Chelsea Light Moving Regie geführt hat? Es wirkt zumindest etwas blöd, wie
       er, auf den Clip angesprochen, gegenüber dem Rolling Stone herumeiert. Der
       Pro-Occupy-Song „Lip“ besticht durch den Charme von lobotomisiertem Punk;
       der Refrain besteht aus einem mehrfachen „Fuck!“, die Catchphrase lautet
       „Get fucking mad/Too fucking bad“. Zur Bebilderung dient ein
       Zusammenschnitt von entsprechenden Aufnahmen: Aufstände und Polizeieinsätze
       und dazwischen immer wieder, farbverfremdet und bewusst dilettantisch
       gefilmt, die Band.
       
       Zu der ist leider schon fast alles gesagt, zitiert man einen
       Festivalbesucher: „Joa, wie Sonic Youth, nur etwas langweiliger.“ Im
       Hintergrund ruft ein anderer: „Noch langweiliger?!“ Im Westwerk nun kann
       man der Band mit dem Namen des Umzugsunternehmens, das in den 1970ern die
       beiden Minimal-Music-Protagonisten Philip Glass und Steve Reich aus akuter
       Geldnot gründeten, mehr Liebe schenken. Thurston Moore kann sie brauchen!
       
       Einen guten Monat später, am 10. August, zeigt er uns in Begleitung der
       mittlerweile achtzigjährigen Fluxus-Hexe Yoko Ono, wo der Frosch die Locken
       hat. Letztes Jahr haben beide – zusammen mit Kim Gordon – eine EP gemacht,
       keine Ahnung, was sie diesmal treiben. Das Programm des [4][Internationalen
       Sommerfestivals] auf Kampnagel, in dessen Rahmen die beiden, äh,
       „performen“, [5][verspricht] eine „wilde Kollision aus Songs, Poesie,
       Free-Rock und glossolalischer Ekstase“. Als Glossolalie beschreibt der
       Duden übrigens die Hervorbringung von fremdartigen Sprachlauten und
       Wortneubildungen, besonders in religiöser Ekstase.
       
       Ebenfalls auf Kampnagel gibt sich dann [6][am 22. August] eine alte
       Bekannte Moores die Ehre: Lydia Lunch. In ihrem Schlepptau hat sie unter
       anderem Bob Bert, der wiederum früher bei Sonic Youth getrommelt hat
       (außerdem bei Pussy Galore, Action Swingers, Bewitched, Honeymoon Killers
       sowie gefühlt/gemittelt 100 anderen Bands).
       
       Trotz der epochalen Zusammenarbeit mit Sonic Youth, dem Stück „Death Valley
       69“ (1984), kann Lunch nicht wirklich als eine Weggefährtin Moores gelten.
       Sie weilte bereits mitten im Herzen der Bestie New York, als der ein Jahr
       ältere Junge aus Connecticut noch im Bummelzug anreiste, um sich bei seinem
       ersten Kurzbesuch die legendären Suicide anzusehen. Lunch war schon
       Ewigkeiten zuvor, als 13-Jährige, in NYC gelandet, nach eigenen Angaben
       lediglich mit einem kleinen roten Koffer und einem Wintermantel im Gepäck –
       und natürlich dem, was sie gern ihre „big fucking attitude“ nennt.
       
       Ihren Namen verdankt Lydia Lunch angeblich dem Umstand, dass sie als junge
       Göre wiederholt den Dead Boys das Essen geklaut haben soll. In der
       Dokumentation [7][„Punking Out“] über die Szene um das legendäre CBGB’s
       wird sie im fortgeschrittenen Alter von 17 interviewt. Die vollständige
       Abschrift:
       
       „I’m here to see the Dead Boys“
       
       Why?
       
       „Because they’re great fucks!“
       
       How do you know?
       
       „Because I fucked them!“
       
       Alles, was der notorische Hipster Moore schon immer gern gewesen wäre, war
       und ist Lydia Lunch. Die übrigens seit Jahren in Barcelona lebt und für New
       York nur noch böse Worte findet – „the fuckin’ asshole of the universe!“ Im
       Rahmen seiner Arbeit an dem Fotobuch „No Wave: Post-Punk. Underground. New
       York 1976–1980“ interviewte Moore vor einiger Zeit Lydia und bot sich an,
       falls sie noch mal ihre legendäre erste Band Teenage Jesus & The Jerks
       reanimieren wolle.
       
       Sie wollte, konnte – und hat es einfach getan, sehr erfolgreich mit Moore
       am Bass und Weasel Walter an und in allem anderen. Letzteren wiederum
       bringt sie nun neben Bob Bert und Algis Kizys (Swans) mit nach Hamburg.
       Retrovirus nennen sie sich, und ja – DAS könnte was werden!
       
       Chelsea Light Moving: Fr, 5. 7., Hamburg, Westwerk 
       
       Yoko Ono & Thurston Moore – An Evening of Musical Improvisation and Film:
       Sa, 10. 8., Hamburg, Kampnagel 
       
       Retrovirus: Do, 22. 8., Hamburg, Kampnagel
       
       2 Jul 2013
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.elle.com/pop-culture/celebrities/kim-gordon-sonic-youth-profile
   DIR [2] http://www.rollingstone.com/music/news/q-a-thurston-moore-on-chelsea-light-moving-occupy-wall-street-and-the-future-of-sonic-youth-20130516
   DIR [3] http://jezebel.com/is-this-the-woman-who-broke-up-kim-gordon-and-thurston-478479027
   DIR [4] http://kampnagel.de/internationales-sommerfestival/
   DIR [5] http://kampnagel.de/de/programm/yoko-ono-thurston-moore/?datum=&id_datum=1554
   DIR [6] http://kampnagel.de/de/programm/lydia-lunch/?datum=&id_datum=1504
   DIR [7] http://www.punkingoutfilm.com/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lars Brinkmann
       
       ## TAGS
       
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