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       # taz.de -- Ultras in Deutschland: Teil einer Jugendbewegung
       
       > Ultras sind extreme Fußballfans. In Istanbul, Rio und Kairo sind sie
       > Helden des Protests. Hier gelten sie als Krawallos. Sind die wirklich so
       > böse?
       
   IMG Bild: Große Choreografen: die Dortmunder Südtribüne vor dem Champions-League-Viertelfinale gegen den FC Malaga
       
       Sie mussten sich ausziehen, bis sie nackt waren und die Polizei genug
       gesehen hatte. Verdächtig hätten die beiden Männer im Alter von 17 und 20
       Jahren ausgesehen, so verdächtig, dass der Polizei auch eine Untersuchung
       des Anal- und Genitalbereichs notwendig schien. „Gerechtfertigt und
       verhältnismäßig“ seien die Maßnahmen „zum Zwecke der Gefahrenabwehr“
       gewesen, teilte später das Polizeipräsidium Südhessen mit. Gefunden wurde:
       nichts.
       
       Nacktkontrollen bei Jugendlichen? Die beschriebene Szene fand vor dem
       Drittliga-Fußballspiel SV Darmstadt gegen den Halleschen FC am 2. März
       dieses Jahres statt. Kein Aufschrei folgte, keine gesellschaftliche Debatte
       – nichts. Wie anders war das drei Jahre zuvor, als über Nacktscanner an
       Flughäfen diskutiert wurde – was für eine massive Einschränkung der
       Bürgerrechte! In Darmstadt aber ging es ja nur um ein Fußballspiel.
       
       Und um eine Fangruppe, die ohnehin verdächtig ist, gewaltbereit und
       gefährlich. „Experten sind sich einig, dass die Ultras das größte Problem
       des Fußballs in den kommenden Jahren sein werden“, schrieb Alfred Draxler
       von der Bild-Chefredaktion im November 2011 – wenige Tage nach dem
       DFB-Pokalspiel Borussia Dortmund gegen Dynamo Dresden, das kurz vor dem
       Abbruch gestanden hatte. Gegenstände waren aufs Spielfeld geflogen,
       bengalische Feuer nebelten den Gästeblock ein.
       
       Die Ultras – man kann Angst vor ihnen schüren oder sie differenziert
       betrachten: als die politisierte Jugend, von der es heißt, sie existiere
       gar nicht.
       
       ## Ziviler Ungehorsam
       
       Istanbul, Taksimplatz. Die „Çarsi“, die Ultras des Stadtteilklubs Beşiktaş,
       wurden während der Proteste gegen die Regierung Erdogan zu Volkshelden. Sie
       schützen die Demonstranten vor den Sonderkommandos, durchbrachen
       Polizeiketten und ermutigten andere zum zivilen Ungehorsam. Sie reihten
       sich nahtlos in die Bürgerbewegung ein.
       
       Fußball war und ist politisch, in Brasilien wurde es sichtbar.
       Hunderttausende protestieren im Jahr vor der WM 2014 gegen überteuerte
       Stadien. In Ägypten zählten die Ultras des Kairoer Hauptstadtklubs al-Ahly
       zu den Hauptakteuren des Arabischen Frühlings bis zum Sturz des
       Mubarak-Regimes.
       
       Und bei uns? Ultras gibt es hier auch. Wirklich die Bösen, wie der
       Bild-Mann meint? Die, die sich nur für ihren Verein interessieren, die
       gegen den kommerzorientierten Fußball sind und gern auch mal Steine
       schmeißen? Oder eben ganz anders: die, die wirklich etwas wollen, auch
       außerhalb der Stadien.
       
       Der Fanforscher und Politologe Jonas Gabler von der Uni Hannover stufte
       2010 die Ultras hierzulande als jugendliche Protestbewegung ein, die sich
       für den Schutz der Freiheits- und Bürgerrechte und gegen die Ökonomisierung
       aller Lebensbereiche starkmacht. Heute erkennt Gabler bei den Ultras ein
       „enormes Potenzial für eine ernstzunehmende Politisierung“. Bisher fehle
       dafür ein starker „gesellschaftlicher Impuls, wie er in Ägypten oder in
       Istanbul gegeben war“. Auffällig sei aber, dass gerade „junge Ultras sozial
       sensible Menschen sind, die auch in dementsprechenden Berufen arbeiten“.
       
       ## Progressive Form
       
       Auch Tobias Wark hat die Fanszene erforscht, die in Bundesliga-Stadien zwar
       für ihre Gesänge geschätzt wird – weil das ein wichtiger Teil der
       Inszenierung des Fußballs ist –, deren Anhänger sich aber eben auch
       ausziehen müssen. Wark ist Mitarbeiter am Institut für Fankultur in Köln
       und Würzburg. Er sieht den Ursprung der Ultras „in Ausdrucks- und
       Verhaltensweisen des politischen Protests der 68er Jahre in Italien“.
       Längst aber hätten sie durch die Verquickung mit anderen Jugendkulturen
       eine progressive Form angenommen.
       
       Progressiv heißt, dass sich Ultras kritisch mit dem Trikotsponsor der
       eigenen Mannschaft auseinandersetzen und damit einen Konflikt artikulieren,
       der längst nicht nur sie etwas angeht. In Bremen war der Ärger groß, als
       der Geflügelkonzern Wiesenhof als neuer Sponsor vorgestellt wurde.
       Wiesenhof steht wegen seiner Massentierhaltung in ständiger Kritik. In
       Nürnberg wehrten sich die Fans nach Fukushima gegen den französischen
       Atomkonzern Areva, der von den rot-schwarzen Shirts strahlte. In beiden
       Fällen wurde dieser Widerstand auch außerhalb der Kurve wahrgenommen.
       
       „Protestkultur wird in unserer überregulierten Bundesrepublik
       kriminalisiert“, sagt Matthias Stein aus Jena von der
       Bundesarbeitsgemeinschaft der Fanprojekte. Er meint die Reduzierung der
       Ultras auf deren Gewaltpotenzial. Manchmal fliegen Steine, kommt es zu
       Schlägereien, aber: „Die Gewaltprobleme im Fußball sind eine
       Phantomdiskussion“, sagt Stein.
       
       In der Saison 2010/2011 kamen auf 17,5 Millionen Zuschauer in der ersten
       und zweiten Bundesliga 846 Verletzte. Stein verweist auf das soziale
       Engagement der Ultras. In Jena, erzählt er, haben sich Ultras erfolgreich
       mit mehreren Initiativen gegen das von nationalistischen Gruppen
       ausgerichtete „Fest der Völker“ gewandt. „Wenn ich mich im Alltag gegen
       rechts wende, gilt das als Zivilcourage, im Stadion ist man sehr schnell
       beim Landfriedensbruch“, sagt er. Werden Ultras von rechten Fans
       angegriffen oder bedroht, unterscheidet die Polizei oft nicht zwischen den
       Gruppen.
       
       ## Politische Positionen
       
       Daneben sind auch Homophobie und Diskriminierung Themen in der Szene
       geworden. „Auch wenn sich die Reflexe klar gegen Polizeiwillkür,
       Sicherheitswahn und Kommerz im Fußball richten, vertreten Ultras politische
       Positionen im gesellschaftlichen Kontext“, sagt Jörg Rodenbüsch vom
       Fanprojekt in Saarbrücken. „Es ist kaum etwas mehr politisiert als der
       Sport.“
       
       Zumal der Polizei die Spieltage auch als Experimentierfeld für den Umgang
       mit zivilen Protesten wie bei den Blockupy-Demonstrationen oder dem
       Widerstand gegen den Bahnhofsneubau Stuttgart 21 dienen dürften. Die
       Bundesliga startet am 9. August in die neue Saison. Die Ultras werden da
       sein. (Mitarbeit: Andreas Rüttenauer)
       
       30 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Scheper
       
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