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       # taz.de -- Deutschlands maue Debattenkultur: Das Intellektuellendilemma
       
       > Nach dem Krieg sprach der Intellektuelle über Schuld. Heute hat er ein
       > Problem: Nichts polarisiert wie die Vergangenheit. Worüber also reden?
       
   IMG Bild: Die Zeiten des ausgestreckten Zeigefingers sind für Intellektuelle vorbei.
       
       „Pinscher“ nannte Bundeskanzler Ludwig Erhard mit liebevoller Verachtung
       die deutschen Intellektuellen. Er konnte sich des Beifalls der
       Mehrheitsgesellschaft sicher sein. Das war 1965. Wenige Jahre später
       wendete sich das Blatt.
       
       1968, im Jahr der Revolte, veränderte sich auch das Verhältnis der Republik
       zu ihren Vordenkern. In der Folge wurden neue Bezeichnungen für jene
       ausprobiert, die sich, ohne politisches Amt, in die Belange der Politik
       einmischten, um Missstände anzuprangern. Die Pinscher mauserten sich zu
       Verteidigern der Freiheit und streitbaren Demokraten.
       
       Damals entstand das Vokabular, das wir jetzt wortgetreu in den Nachrufen
       auf jene erste Generation von „unbequemen“ Zeitgenossen der zweiten
       deutschen Republik wiederfinden. „Intellektueller“ wurde in Deutschland der
       neue Übername für engagierte Menschen, die von ihrem Verstand öffentlichen
       Gebrauch machten.
       
       Aus eben diesem Jahr 1968 stammt eine Art Definitionsversuch, der dem
       Intellektuellen bescheinigt, nicht das Partikulare, sondern das Allgemeine
       im Blick zu haben: so sehr, dass er selbst die eigene Besonderheit
       auslöschen will.
       
       ## Der Grundkonsens war „Antifaschismus“
       
       Nur wer bereit sei, „im Namen des Allgemeinen das Besondere in ihm selbst
       und damit überall zu bekämpfen, ist ein Intellektueller,“ meinte Jean-Paul
       Sartre, der französische Großintellektuelle des 20. Jahrhunderts. Offenbar
       beflügelt vom Zeitgeist, fand er Grund und Mut, diesen definitorischen
       Trompetenstoß um den Fundamentalsatz zu erweitern, „daß kein
       Intellektueller existiert, der nicht ’links‘ ist“. So sieht man es seither
       vor allem in Deutschland, während sich Frankreich, das Mutterland der
       Intellektuellen, längst von solcher politischen Einäugigkeit verabschiedet
       hat.
       
       Blicken wir zurück. Nachdem aus dem Volk der Dichter und Denker im NS-Staat
       das der Richter und Henker geworden war, konnte kritisches Denken in der
       neuen Republik nur ein Ziel haben. Der exemplarische deutsche
       Intellektuelle der Nachkriegszeit, Theodor W. Adorno, fasste es in den
       kategorischen Imperativ, alles sei dafür zu tun, „daß Auschwitz nicht sich
       wiederhole, nichts ähnliches geschehe“.
       
       Und er ließ keinen Zweifel daran, dass eine Wiederholung nur auszuschließen
       sei, wenn die weiter existierenden gesellschaftlichen – sprich:
       kapitalistischen – Grundlagen radikal verändert würden: „Die Gefahr ist
       objektiv; nicht primär in den Menschen gelegen.“ Diese antikapitalistische,
       ganz im Sartre’schen Sinne linke Perspektive war in Westdeutschland vor
       1968 die einer kleinen Minderheit, die nahezu ein Monopol auf Kritik
       innehatte.
       
       ## Die richtige und die falsche Seite
       
       Mochten in Staat, Wirtschaft, Politik und Verwaltung noch alte Nazis zuhauf
       wichtige Funktionen innehaben: Der „Geist“ hatte, Schreckschussgewehr bei
       Fuß, links zu stehen. „Antifaschismus“ hieß, über die politischen
       Systemgrenzen hinweg, der Grundkonsensus der kritischen Intelligenzija. Mit
       Blick auf die Geschichtskatastrophe war es unverrückbares Programm und
       Gebot jedes Intellektuellen, dem Adorno’schen Imperativ zu folgen. Der
       Parole „Nie wieder“ war der Gestus der Mahnung eingeschrieben, eine
       Wiederholungsphobie, die die alte „welthistorische Alternative“ von
       Faschismus und Sozialismus wiederaufleben ließ.
       
       Damals, in den zwanziger und dreißiger Jahren, gab es scheinbar glasklar
       eine richtige und eine falsche Seite samt der moralisch fordernden Frage
       „Which side are you on?“ Diese schöne Dichotomie war nun der viel
       unklareren Ost-West-Konfrontation mit ihren vielgestaltigen Ambivalenzen
       gewichen. Ja, wo stand man nun eigentlich als letztlich pro-westlicher
       Kapitalismuskritiker in einem geteilten Land und einer durch und durch
       antikommunistischen Gesellschaft?
       
       „Der Intellektuelle in unserer Zeit ist ein politischer Neurotiker“,
       konstatierte der Schriftsteller und Exkommunist Arthur Koestler 1953. „Er
       trägt einen eigenen Eisernen Vorhang in seinem Schädel.“ Die westdeutschen
       Intellektuellen lebten in einer schizophrenen Situation. Ihr aus dem
       Antifaschismus erwachsender Anti-Antikommunismus, damals eine durchaus
       ehrenwerte Option, machte viele auf dem linken Auge blind. Gerade nach 68
       wurde es deutlich. Während sich in Frankreich spätestens Mitte der
       siebziger Jahre mit dem durch Solschenizyn ausgelösten Gulag-Schock der
       Blick der Intellektuellen auf den Kommunismus und die UdSSR radikal
       wandelte, war in Deutschland keine Rede davon: Man blieb linientreu.
       
       „Der deutsche Intellektuelle“, so schrieb im Herbst des Staatssozialismus
       der ostdeutsche Dichter Rainer Kunze, „hat einen besonderen Hang zu in sich
       geschlossenen Denksystemen, und in denen hält er stand wie ein Zinnsoldat,
       der auch dann nicht schmilzt, wenn die Wirklichkeit außerhalb seines
       Denksystems die Hölle ist.“
       
       Nichts beweist das mehr als das Epochenjahr 1989. Dass der
       Ereigniszusammenhang, für den „89“ steht, noch wenig begriffen, ja kaum in
       die deutsche Denkgeschichte integriert ist, hat viel mit der
       intellektuellen Tradition des Anti-Antikommunismus und der Fixierung auf
       die rechte Vergangenheit zu tun. Sie impliziert eine bis heute wirkende, an
       die Altershierarchie des Vatikans erinnernde Fixierung auf bestimmte
       Leitfiguren.
       
       Es muss nachdenklich machen, dass nach wie vor Günter Grass die Rolle des
       Topintellektuellen der Bundesrepublik besetzen kann. Er baute sich seinen
       moralischen Denkmalsockel durch furiose Anklagen gegen alte Nazis,
       wortreiche Attacken gegen das Verschweigen der NS-Vergangenheit. Dass das
       Amt des Klägers auch den Sinn haben kann, ihm selber Immunität zu
       verschaffen, gehört zur Geschichte der deutschen Intellektuellen nach 1945.
       
       ## Bezahlt wird mit Aufmerksamkeit
       
       Es ist mehr als bittere Ironie, dass einige aus der alten Garde
       intellektueller Chefankläger mittlerweile als Nazimitläufer (oder mehr)
       geoutet sind: Es ist ein Symptom. Die rigorosesten Moralattacken pflegen
       gerne von denen zu kommen, die damit ein eigenes Schuldproblem bewältigen
       wollen. Auch wenn diese Problematik sich, aus biologischen Gründen,
       mittlerweile bald erledigt haben wird – aufgearbeitet ist sie bei weitem
       nicht.
       
       Derzeit erleben wir wenn nicht das Ende, so doch einen Funktionswandel der
       alten „Nie-wieder“-Mahnkultur. Das Paradigma verliert an moralischer
       Bindungskraft, der erigierte Zeigefinger stochert immer häufiger hilflos in
       der Luft.
       
       Wofür ereifern sich Intellektuelle heute? Mit welchem Grund, welcher
       Legitimation? Gibt es noch Themen, die ähnlich polarisieren, ähnlich
       moralisierbar sind wie die aufregend mörderische Vergangenheit? Und die
       Währung garantieren, in der Intellektuelle sich bezahlen lassen:
       öffentliche Aufmerksamkeit?
       
       Denn das vergaß Sartre zu sagen: So sehr sein idealisierter Intellektueller
       das Allgemeine im Blick haben mag – er tut es nicht zuletzt zur Pflege
       seiner höchstpersönlichen Besonderheit, die er angeblich bekämpft.
       
       Nicht dass man es unbedingt kritisieren muss. Aber man könnte darüber
       nachdenken.
       
       29 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Schneider
       
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