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       # taz.de -- Riesenprotest in Köln gegen Erdogan: „Überall ist Taksim!“
       
       > Zehntausende Menschen haben in Köln gegen den türkischen Premier Erdogan
       > demonstriert. Friedlich bleibt es wohl auch, weil Erdogan-Anhänger
       > zuhause blieben.
       
   IMG Bild: „Tayyip, tritt zurück!“: Deutliche Worte beim Protest.
       
       KÖLN taz | Ein einziges Fahnenmeer ergießt sich über den Kölner Heumarkt.
       Der Platz vor dem Reiterstandbild des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III.
       ist überfüllt. Doch immer noch strömen die Menschen zu der Großkundgebung
       der Alevitischen Gemeinde Deutschlands (AABF). Mit 30.000 Teilnehmerinnen
       und Teilnehmer hat der Veranstalter gerechnet. Doch es sind weit mehr.
       „Tayyip, istifa!“, skandiert die Menge: „Tayyip, tritt zurück!“
       
       Zahlreiche Organisationen haben sich dem Protest der alevitischen Gemeinde
       angeschlossen, darunter Gewerkschaften, Parteien sowie die Occupy-Bewegung.
       Aus der gesamten Bundesrepublik und dem benachbarten Ausland sind die
       DemonstrantInnen mit Zügen und mehreren Hundert Bussen gekommen, um ihre
       Solidarität mit der Demokratiebewegung in der Türkei zu bekunden. Deren
       Motto ist auch ihr Motto: „Her yer Taksim, her yer direnis“ – „Überall ist
       Taksim, überall ist Widerstand.“ Es sind so viele, dass der geplante
       Demonstrationszug durch die Kölner Innenstadt aus Sicherheitsgründen nicht
       stattfinden kann.
       
       Auch eine Woche nach der brutalen Räumung des Gezi-Parks in Istanbul sind
       Trauer und Wut ungebrochen. „Das ist eine Demonstration von aufrechten
       Demokraten gegen einen faschistoiden Diktator“, ruft AABF-Generalsekretär
       Ali Dogan von der Bühne. Wie auch zahlreiche andere RednerInnen wirft er
       der türkischen Regierung massive Menschenrechtsverletzungen vor. „An den
       Grenzen von Europa darf kein Polizeistaat entstehen.“ Dogan fordert den
       Rücktritt Erdogans und sofortige Neuwahlen.
       
       Etliche DemonstrantInnen haben selbst gemalte Plakate mitgebracht mit
       Aufschriften wie: „Wir wollen keinen fundamentalistischen Staat in der
       Türkei“, „Erdogan, der Wolf im Schafspelz“ oder auch nur schlicht „Freiheit
       statt Angst“. Auch handgefertigte „Carsi“-Fahnen von Besiktas-Fans sind
       dabei. Auf dem Schild eines etwas älteren Mannes mit Schnäuzer und
       Halbglatze steht: „Claudia Roth wir lieben Sie.“
       
       Volker Beck schmunzelt, als er das Bild sieht. Der Parlamentarische
       Geschäftsführer der grünen Bundestagsfraktion ist einer von mehreren
       Abgeordneten aus den Reihen der Grünen, der SPD und der Linkspartei, die
       zur Unterstützung gekommen sind. „Dieses Zeichen für Demokratie und
       Rechtsstaatlichkeit ist sehr wichtig“, sagt Beck. „Wir müssen die Menschen,
       die auf den Straßen in der Türkei für westliche Werte eintreten,
       unterstützen.“
       
       ## Verhandeln oder nicht verhandeln?
       
       Deswegen setzt sich Beck auch im Gegensatz zu
       Linkspartei-Bundestagsfraktionschef Gregor Gysi für eine Fortsetzung der
       EU-Beitrittsgespräche ein, bei denen mit der türkischen Regierung „Klartext
       geredet werden“ müsse. Eine Aussetzung der Verhandlungen würde hingegen nur
       denjenigen in die Hände spielen, die schon immer dagegen waren, die Türkei
       in die Europäische Union aufzunehmen.
       
       „Wir müssen aufpassen bei der Diskussion“, warnt Beck. „Wenn die Türkei
       sich reformiert, muss sie ihren Platz in der EU finden.“ Gemeinsam werfen
       Beck und Gysi der AKP-Regierung die Einschränkung der Meinungs- und
       Religionsfreiheit vor. Erdogan versuche, aus der säkularen Türkei einen
       sunnitisch-islamischen Staat zu machen. „Das muss gestoppt werden“, sagte
       Gysi. Staat und Religion müssten strikt getrennt sein.
       
       Die IG Metall hat ihr geschäftsführendes Vorstandsmitglied Christiane
       Benner nach Köln geschickt. „Das sind keine Chaoten, keine Terroristen,
       sondern Menschen, die genug haben von der Ungerechtigkeit, der Ignoranz und
       Arroganz der Mächtigen“, sagt sie über die Protestierenden in der Türkei.
       Sie wollten „ein Zeichen setzen für Freiheit und Gerechtigkeit, für
       Ökologie, für Gleichberechtigung und Menschenrechte“. Dabei stehe die IG
       Metall an ihrer Seite.
       
       Die Kölner Polizei spricht von einem „erfreulich friedlichen Verlauf“ der
       Kundgebung. Dazu dürfte beitragen, dass sich Anhänger Erdogans nicht
       blicken ließen. Allerdings versuchen sie mittlerweile auch in der
       Bundesrepublik, wieder in die Offensive zu kommen. Zwar halten sich mit der
       AKP-Regierung verbandelte muslimische Verbände wie DITIB oder Milli Görus
       derzeit noch bedeckt, dafür zieht das neu gegründete Bonner Tulip Forum
       kräftig vom Leder. Die DemonstrantInnen in der Türkei seien nur „eine von
       fragwürdigen Machern instrumentalisierte Minderheit, die mit rechtswidrigen
       Mitteln Unruhe schafft“, heißt es in einer Erklärung.
       
       ## Lobby-Truppe der AKP
       
       Das gewaltsame Vorgehen gegen die türkische Demokratiebewegung hält das
       Tulip Forum für gerechtfertigt: „Der Staat muss um der Staatsräson willen
       mit der gebotenen Härte gegen die Krawallmacher durchgreifen.“ Erdogan habe
       sich denn auch „konkret nichts zu Schulden kommen lassen, das eine
       derartige Einmischung, wie sie von Seiten der deutschen Politik zu
       verzeichnen ist, rechtfertigen würde“ und erfreue „sich eines Zuspruchs,
       von dem deutsche Politiker nur träumen können“.
       
       Hinter dem Tulip Forum steckt ein Kreis früherer Funktionäre der Union
       Europäisch-Türkischer Demokraten, einer Lobby-Truppe der AKP in der
       Bundesrepublik. Sprecher des Tulip Forums ist Salih Altinisik, bis vor
       wenigen Wochen noch UETD-Generalsekretär. Mit dabei ist auch Haluk Yildiz,
       Chef der Kleinpartei „Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit“ (BIG) und
       der ehemalige Islamrat- und UETD-Vorsitzende Hassan Özdogan, der heute dem
       Muslimischen Sozialen Bund (MSB) vorsteht.
       
       Es ist eine andere, eine säkularere Welt, die am Samstag in Köln
       demonstriert. „Die Protestierenden vom Gezi-Park sind zum Symbol für die
       große Sehnsucht nach einer freiheitlich-demokratischen und humanistischen
       Gesellschaft geworden“, sagt Ali Dogan von der alevitischen Gemeinde.
       „Lasst uns solidarisch sein, lasst uns solidarisch bleiben“, ruft Gregor
       Gysi den DemonstrantInnen unter großem Beifall zu. „Wer aufhört zu kämpfen,
       hat schon verloren.“
       
       22 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pascal Beucker
       
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