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       # taz.de -- Kommentar Proteste weltweit: Sommer der Wut
       
       > In Ländern wie Brasilien und der Türkei gehen die Gewinner des letzten
       > Jahrzehnts auf die Straße. Sie wollen weiter von den Modernisierungen
       > profitieren.
       
   IMG Bild: Die Sehnsüchte wachsen weltweit: Proteste in Brasilien.
       
       Revolutionen fressen bekanntlich ihre Kinder; heute aber fressen Kinder
       ihre Revolutionen. Erst in der Türkei, dann in Brasilien gehen die Gewinner
       des vergangenen Jahrzehnts auf die Straße, um genau jene Regierungen zum
       Teufel zu wünschen, deren Politik ihnen erst Spielräume gegeben hat. Die
       Anlässe der Massenproteste in Istanbul und Rio de Janeiro sind auf den
       ersten Blick und auch im Hinblick auf die Geschichte beider Länder banal:
       das Fällen von Bäumen für ein Immobilienprojekt hier, die Anhebung von
       Fahrpreisen im öffentlichen Nahverkehr dort.
       
       Aber die Folgen stellen das gesamte Entwicklungsmodell infrage, auf dem die
       Beschleunigung der Globalisierung im 21. Jahrhundert und die Hoffnung von
       Milliarden auf den Aufstieg aus der Armut beruhen.
       
       Erdogans AKP in der Türkei, Lulas PT in Brasilien, aber auch Reformer in
       Südafrika, Nigeria und zahlreichen anderen Schwellenländern von Venezuela
       bis Indonesien stehen für ein eindeutiges Projekt: den Bruch mit
       verknöcherten Diktaturen und das Einschwenken auf eine forcierte
       Modernisierung. In diesen Ländern entstehen ganze Millionenstädte schneller
       als in Deutschland eine U-Bahn-Linie, es breiten sich in einer nie da
       gewesenen Rasanz neue Technologien und der damit verbundene Anschluss an
       die Welt aus, es entstehen praktisch über Nacht neue Mittelschichten mit
       großen Ambitionen und Ansprüchen.
       
       Oft wird dies als chinesisches Modell analysiert, aber in Wahrheit ist
       China inzwischen ein Sonderfall, weil dort eine untypische politische
       Verknöcherung herrscht, während in den meisten Ländern der Bruch mit dem
       Alten zum Fundament der Modernisierung gehört.
       
       Gerade deswegen stehen die Machthaber sofort in der Schusslinie, wenn die
       von ihnen geweckten Sehnsüchte nicht erfüllt werden. Die wuchernden
       Metropolen der Schwellenländer sind Frontlinien der Globalisierung. Aber
       die dort aufflackernden Proteste richten sich nicht gegen das
       kapitalistische System oder vermutete imperialistische Verschwörungen,
       sondern gegen Alltagsprobleme: mangelhafte Stromversorgung, unzumutbare
       Verkehrsinfrastruktur, Willkür einer korrupten Behörde, Übergriffe
       irgendeines Sicherheitsapparats.
       
       Nur die wenigsten dieser Proteste finden Aufmerksamkeit jenseits ihrer
       Landesgrenzen. Aber kaum ein asiatisches, afrikanisches oder
       lateinamerikanisches Land bleibt derzeit davon verschont. Noch vor den
       Massenprotesten in Istanbul und Rio gab es die Massendemonstrationen in
       Indien gegen eine brutale Gruppenvergewaltigung mit Todesfolge; es gab in
       Südafrika die Massenstreiks und Proteste im Bergbau, dem Herzen der
       Klassenidentität der vom ANC vertretenen schwarzen Mehrheit.
       
       Es gab in Russland die Aufstände eines Teils der modernen städtischen
       Jugend, die mit dem Putin-System groß geworden ist und es gerade deswegen
       heute abschütteln will. China wird ständig von sozialen Unruhen
       erschüttert. Von Algerien bis Angola befinden sich die trostlosen Vorstädte
       der Metropolen in einem latenten Daueraufstand. Von Kinshasa bis Caracas
       nehmen Jugendliche in Elendsvierteln, wo nichts ohne Gewalt funktioniert,
       das eigene Überleben und allmählich auch Recht und Gesetz in die eigenen
       Hände.
       
       ## Keine Infrastruktur, kein soziale Absicherung
       
       Ihnen allen geht es darum, dass sie gerade dann, wenn sie die ersten
       Schritte aus der Armut schaffen, viel schwierigere Bedingungen vorfinden
       als ihre Altersgenossen in reichen Ländern: keine Rechtssicherheit, keine
       soziale Absicherung, kein allgemein zugängliches Bildungs- und
       Gesundheitssystem, keine Infrastruktur, keine Zukunft jenseits der eigenen
       Daueranstrengung.
       
       Das zwingt auch die gesättigten westlichen Beobachter dazu, die Welt mit
       anderen Augen zu sehen. Die reichen Länder sind nicht mehr von einem Meer
       der Elenden umgeben, denen man helfend beistehen müsste, sondern von einem
       Feuerlauf der Wut, mit dem sich jeder vernetzen sollte, dem die Zukunft der
       Welt am Herzen liegt.
       
       23 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dominic Johnson
       
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