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       # taz.de -- Minderheitenparteien: Karteileichen vor Gericht
       
       > Prozessauftakt in Schleswig: Soll auch für die Minderheitenpartei der
       > Dänen und Friesen die Fünfprozenthürde gelten? Gehört diese vielleicht
       > ganz abgeschafft? Ein Urteil gibt es wohl erst im Herbst.
       
   IMG Bild: Gekommen, um sich zu beschweren: Der Rechtsanwalt und CDU-Abgeordnete Trutz Graf Kerssenbrock (vorne links) und Junge-Union-Vertreter.
       
       SCHLESWIG taz | Eigentlich ist Flemming Meyer ein Mann von, nun, dänischer
       Gelassenheit. Als es aber am gestrigen Mittwoch vor dem
       Landesverfassungsgericht in Schleswig darum ging, ob es in
       Schleswig-Holstein überhaupt eine dänische Minderheit gibt – und ob der
       Südschleswigsche Wählerverband (SSW) ihre Vertretung sei –, da schien es,
       als wolle Meyer, Vorsitzender des SSW und einer seiner drei
       Landtagsabgeordneten, fast explodieren.
       
       Im Parlament vertreten ist der SSW seit den späten 1940er-Jahren, zurzeit
       regiert er mit SPD und Grünen – dabei hat er bei der Wahl 2012 nur 4,6
       Prozent der Stimmen erhalten. Insgesamt 35 Beschwerden gingen gegen das
       letztjährige Wahlergebnis ein, von denen das Gericht nun einen Teil
       überprüft. Im Mittelpunkt steht der Status des SSW, der seit 1955 von der
       Fünfprozentklausel befreit ist.
       
       Wie viele Mitglieder habe die Partei überhaupt, fragte nun vor Gericht
       Trutz Graf Kerssenbrock, Prozessbevollmächtigter mehrerer Beschwerdeführer
       von der Jungen Union. Und seien darunter nicht „jede Menge Karteileichen“?
       Die Minderheit sei doch „komplett integriert“, gar nicht „erkennbar“,
       klagte Martin Bommert als Vertreter einer weiteren Beschwerdegruppe.
       
       „Dass eine Gruppe zu klein ist, um eine Minderheit zu bilden, ist schon
       merkwürdig“, fand im Gegenzug der Vertreter der Landesregierung, Wolfgang
       Ewer. Hans-Peter Bull, ehemaliger Innenminister, der für den Landtag
       sprach, argumentierte mit der Geschichte und der Aufgabe des SSW: Dieser
       habe sich stets zu allen Fragen geäußert und nicht bloß „folkloristische“
       Minderheitenthemen gehabt. Eine „Gesinnungspolizei“, um zu prüfen, ob
       Mitglieder – oder gar Wähler – sich zur Minderheit und zur dänischen Kultur
       bekennen, sei sicher nicht gewollt, sagte Bull.
       
       Auf formaler Ebene muss das Gericht entscheiden, ob es gerecht ist, dass
       die Stimmen für den SSW mehr bewirken als die für andere Parteien. Wolfgang
       Kubicki, FDP-Abgeordneter und selbst Jurist, formulierte es so: „FDP,
       Piraten und andere bleiben mit 4,9 Prozent draußen, der SSW kommt mit 4,6
       rein.“ Dieses Ungleichgewicht sei zu groß, vor allem weil der SSW seit 1996
       im ganzen Bundesland antritt, nicht mehr nur in dessen Norden. Die FDP
       schlägt vor, dass der SSW einen Abgeordneten sicher bekommt, weitere aber
       erst, wenn er die Hürde überwindet.
       
       Die Piraten, für die der Abgeordnete Patrick Breyer vor Gericht sprach,
       wollen dagegen ganz auf die Sperrklausel verzichten – das würde SSW und
       anderen kleine Parteien gleichstellen. Die nämlich seien wichtig für die
       Meinungsbildung, erklärte er. Eine stabile Demokratie wie die heutige
       Bundesrepublik habe nicht mehr die Probleme des Weimarer Parlaments.
       
       Gegen ein Aus für die Fünfprozentklausel sprachen sich die Vertreter von
       Regierung und Landtag sowie mehrere Experten aus: Schon 1,4 Prozent der
       Stimmen reichten rechnerisch aus, um in einem Parlament mit 69 Abgeordneten
       einen Sitz zu bekommen, so Landeswahlleiterin Manuela Söller-Winkler. Der
       Vergleich mit EU- oder Kommunalparlamenten zähle nicht, sagte ein
       Sachkundiger: Diese wählten ja keine Regierung.
       
       Eine Entscheidung fiel am Mittwoch noch nicht, vermutlich wird das
       Verfassungsgericht seine Entscheidung erst nach der Sommerpause verkünden.
       Es klang aber danach, als werde es sich verstärkt der Frage zuwenden, ob
       die Fünfprozentklausel grundsätzlich fällt – damit würden sich die Fragen
       nach dem Status des SSW erübrigen. Der Vorsitzende des Verfassungsgerichts,
       Bernhard Flor, ließ durchblicken, dass sich mit dieser Frage aber auch der
       Landtag selbst beschäftigen könnte.
       
       20 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Esther Geißlinger
       
       ## TAGS
       
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   DIR Schleswig-Holstein
       
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