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       # taz.de -- Proteste in Brasilien: Keine Freude über Fußball
       
       > Eine Protestwelle erschüttert Brasilien. Demonstriert wird gegen
       > Preiserhöhungen und Geldverschwendung für Sportspektakel. Protestler
       > stürmen Kongress und Parlamente.
       
   IMG Bild: Eine Demonstrantin in Brasilia
       
       RIO DE JANEIRO taz | Die Demonstranten haben ihr Versprechen gehalten.
       „Wenn sich nichts ändert, werden wir Brasilien lahmlegen,“ skandieren sie
       seit Beginn der Proteste vor gut zwei Wochen. Allerorten strömten am Montag
       Nachmittag Zigtausende auf die Straßen. Lautstark protestieren sie gegen
       die Verschwendung öffentlicher Gelder, verfehlte Stadtpolitik und korrupte
       Politiker. Der Verkehr brach zusammen, während es immer mehr Demonstranten
       wurden.
       
       Niemand hatte mit einem solchen Ausmaß an Protest gerechnet, die Stimmung
       ist kämpferisch, aber friedlich. In der Nacht schlägt die Wut in Gewalt um,
       im Zentrum von Rio de Janeiro spielen sich gespenstische Szenen ab.
       Hunderte Demonstranten stürmen das Landesparlament, die wenigen Polizisten
       im Gebäude können es kaum verteidigen.
       
       Auf der majestätischen Eingangstreppe zerren Vermummte an Absperrgittern,
       während andere fröhlich die Nationalflagge schwenken. Es wurde scharf
       geschossen, Autos und Barrikaden brannten in den umliegenden Straßen.
       
       Hunderttausende Menschen nehmen an dem Marsch teil. Der große Zulauf ist
       auch eine Reaktion auf die Polizeiübergriffe der vergangenen Wochen. Kein
       einziger Polizist begleitet die Großdemo. Erst bei den Angriffen auf die
       Parlamentsgebäude greifen die Polizisten ein. In Rio de Janeiro wird
       zumindest ein Demonstrant von scharfer Munition am Arm getroffen.
       
       In fast allen Großstädten des Landes gehen Menschen auf die Straßen. In der
       Hauptstadt Brasilia stürmen die Demonstranten das Gelände des
       Nationalkongresses, einige Hundert besetzten das Dach des Gebäudes. In São
       Paulo zieht der Protest durch ein Reichenviertel, später geht es ebenfalls
       zum Landesparlament. Anders als in Rio de Janeiro kommt es hier nicht zu
       Auseinandersetzungen mit der Polizei.
       
       ## Erhöhte Busfahrpreise sind Auslöser
       
       Auslöser der Protestwelle war die Anhebung der Busfahrpreise um rund sieben
       Prozent. Seit Jahren kämpft die Bewegung für kostenfreie öffentliche
       Transportmittel – Movimento Passe Livre (MPL) –, gegen deren Privatisierung
       und horrende Preise für einen miserablen Service. Diesmal sind die Proteste
       eskaliert.
       
       Am vierten Protesttag am vergangenen Donnerstag ging die Polizei mit
       Tränengas, Pfefferspray und brutaler Gewalt gegen die Demonstranten vor.
       Über zehn Journalisten wurden von Gummigeschossen getroffen, mehrere
       während ihrer Arbeit festgenommen.
       
       Bei einem Dialogversuch auf Einladung der Stadtregierung von São Paulo
       beharrte die MPL darauf, ausschließlich über eine Rücknahme der
       Preiserhöhung zu verhandeln. Längst kann sie nicht mehr im Namen der
       unzähligen Demonstranten sprechen.
       
       ## Der berühmte Tropfen
       
       „Die Preiserhöhung war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen
       gebracht hat. Jetzt geht es um viel mehr, die Lebenskosten sind einfach
       nicht mehr zu bezahlen,“ sagte eine Demonstrantin. Die Transparente sind
       eindeutig: „Brasilien ist endlich aufgewacht“, „Es geht nicht um 20
       centavos (Preiserhöhung), es geht um Rechte“ oder „Ich brauche keine WM,
       ich will Bildung und Gesundheit“.
       
       Die Regierung hat verstanden, dass es dem Image des Landes nicht gut tut,
       zur Zeit des Confed-Cups und vor den Augen der Weltöffentlichkeit mit
       hartem Gummi auf Protestierende und Journalisten zu schießen. Doch jetzt
       steht sogar das Image Brasiliens als Fußballland in Frage. Der Unmut der
       Menschen [1][richtet sich direkt gegen die sportlichen Großevents] der
       Fußball-WM und Olympiade, für die zusammen mindestens 20 Milliarden Euro an
       Steuergeldern ausgegeben werden.
       
       Statt sich auf das Fußballfest zu freuen, fragen sich die Leute, warum
       „ihre“ Stadien plötzlich privatisiert werden, warum die Eintrittspreise
       unerschwinglich werden, warum der private Weltfußballverband Fifa bestimmen
       kann, was die Fans essen und trinken dürfen. Profitieren, da sind sich fast
       alle einig, wird kaum ein Brasilianer von dem Spektakel, ganz im Gegensatz
       zu den Sponsoren und korrupten Fußballfunktionären.
       
       ## Breites Spektrum
       
       Das politische Spektrum auf den Demonstrationen ist sehr breit. Die einen
       schwingen rote Flaggen linker Splitterparteien, andere rufen, Parteien und
       Gewerkschaften sollen den selbstbestimmten Protest nicht vereinnahmen. Als
       ein Lautsprecherwagen die Nationalhymne anstimmt, singen viele mit, andere
       beginnen ein Pfeifkonzert.
       
       „Es fehlt an konkreten Forderungen, ich befürchte, viele laufen nur mit,
       weil es gerade schick ist,“ sagt ein Demonstrant am Rande des Geschehens.
       Zu sehen sind vor allem junge Leute, aber auch Rentner sind dabei, oder
       Angestellte im Anzug, die gerade aus ihrem Büro kommen.
       
       Präsidentin Dilma Rousseff wurde vom Ausmaß des Protests offenbar
       überrascht. Für sie sind die Großevents ein Schritt in Richtung Global
       Player – die Regionalmacht Brasilien hat mittlerweile die siebtgrößte
       Volkswirtschaft und möchte international eine wichtigere Rolle spielen.
       
       ## Gute Umfragewerte
       
       Auch Zuhause kann die Mitte-Links-Regierung der Arbeiterpartei PT auf zehn
       erfolgreiche Jahre zurückblicken. Durch effektive Sozialprogramme geht die
       Armut zurück, und viele Menschen profitieren von dem langen
       Wirtschaftsaufschwung. Trotz der Protestwelle erfreut sich die Regierung
       Rousseff immer noch sehr guter Umfragewerte.
       
       Die Bewegung lässt sich nicht als Opposition zur PT-Regierung
       interpretieren, auch wenn die rechte Presse sowie konservative Parteien
       dies so verbreiten. Sie sprechen von Inflation und anderen Missständen in
       der Hoffnung, die wahrscheinliche Wiederwahl von Rousseff im kommenden Jahr
       zu erschweren.
       
       Die Protestbewegung will aber kein Zurück zur konservativen Politik
       vergangener Jahre. Sie will mehr Demokratie, mehr soziale Politik und mehr
       Rechte. Deswegen fordern die Demonstranten den Rücktritt des Gouverneurs
       und des Bürgermeisters von Rio de Janeiro – beides stramm rechte Politiker,
       aber Teil der breiten Koalition von Dilma Rousseff.
       
       18 Jun 2013
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Brasilien-verprasst-oeffentliche-Gelder/!118152/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Behn
       
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