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       # taz.de -- Neue szenische Kunst in Hannover: Manchmal hilft die Politik
       
       > Das Festival Theaterformen zeigt Stücke aus dem Iran und der Türkei, die
       > durch die Entwicklungen vor Ort stark an Brisanz gewonnen haben.
       
   IMG Bild: Kleines Meisterstück: die Performance "Late Night" des griechischen Kollektivs Blitz.
       
       HANNOVER taz | Anja Dirks leitet im fünften Jahr das Festival
       „Theaterformen“, dessen Anspruch darin besteht, als Ergänzung zum
       Staatstheaterspielplan Zuschaueraugen und herzen für Neues öffnen. Was
       gerade in Hannover nicht einfach ist:
       
       Das Schauspiel Hannover fordert unter der Leitung von Lars-Ole Walburg das
       Publikum seit Jahren ästhetisch und inhaltlich heraus. So wird der Kampf um
       die knappe Ressource Aufmerksamkeit hart. Mitunter hilft die Politik, wenn
       sie sich aktuell so entwickelt, dass die eingeladenen Produktionen an
       politischer Brisanz gewinnen.
       
       In den vergangenen Jahren gab es zumindest immer einen Treffer im
       Theaterformen-Programm: Dass also ein Stück aus einem Land eingeladen wird,
       das exakt zur Festivalzeit als Krisenregion in allen Medien präsent ist.
       Dann sprudelt nur so das Lob über die Aktualität des Gastspielplans – und
       es zeigt, wie vielschichtig das Theater globale Diskurse begleiten, wie
       sinnlich-konkret es Konflikte von allüberall diskutierbar machen kann.
       
       Iran, so hätte man denken können, da geht immer etwas – aber das
       Empörungsthermometer der Berichterstattung über Mahmud Ahmadinedschad zeigt
       gerade keine Fiebertemperaturen an. Denn nach der Wahl seines moderaten
       Nachfolgers Hassan Rohani ist vor allem Erleichterung zu hören.
       
       Dazu passt die kommenden Mittwoch gezeigte Eröffnungsproduktion vielleicht
       ganz hervorragend. Mit „Iwanow“, so erklärt das Festival die Idee des
       Regisseurs Reza Kochestani, werde etwas über die aktuelle Situation der
       iranischen Intellektuellen erzählt. Die haben an einen jetzt eventuell
       möglichen politischen Wandel nicht mehr geglaubt.
       
       In der Tschechow-Vorlage jedenfalls passiert eigentlich nichts, keine Figur
       hat angesichts allgemeiner Stagnation eine Alternative im Herzen oder lebt
       tatkräftigen Widerstandsgeist, alle ziehen sich ins Private zurück,
       vegetieren im Wohlstand vor sich hin. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten
       brilliert kokett die Vergeblichkeit: endlos unzufriedene Lebenslangeweile
       von entmutigten Seelen.
       
       „Dass schlechte Zeiten oftmals gute Zeiten für das Theaterschaffen sind“,
       möchte Dirks explizit mit der Ballroom-Performance „Late Night“ des
       griechischen Ensembles „Blitz“ beweisen. Es gibt zudem Gastspiele aus
       Argentinien, Frankreich, Irland, der Schweiz – aus dem Putin-Reich kommt
       eine Russland-kritische Deutung des Shakespear’schen „Lear“.
       
       Alles bestimmt interessant. Aber ein Gast aus Syrien, das ist der erste
       Volltreffer. „Intimacy“, das Stück zur täglichen Assad-Meldung, kommt
       bescheiden daher. Mit Yaser Abdellatif steht das Thema des Abends gleich
       selbst auf der Bühne: ein Künstler, der vor dem Bürgerkrieg aus dem Sudan
       nach Syrien floh und dort nun wieder Bürgerkrieg erlebt, während Angehörige
       weltweit Überlebenssicherheit suchen, so dass Familienleben nur noch per
       Skype möglich ist.
       
       Volltreffer Nummer zwei ist Fatih Gençkal. Türkei! Der junge Regisseur und
       seine fünf Performer sind mit „Olmamis Mi?“ (War wohl nichts?) plötzlich
       brandaktuell. Sie waren bei den Protesten iin und um den Gezi-Park und auf
       dem Istanbuler Taksim-Platz live dabei und skizzieren auf der Bühne in
       einer assoziativ offenen Theaterform aus Performance, Tanz und Video ihre
       sehr persönlichen Erfahrungen mit der Türkei. So schaffen sie ein
       fragmentarisches, widersprüchliches Bild ihrer Generation der um die
       30-Jährigen. Und aktualisieren angeblich täglich ihre Texte.
       
       Neben den typischen Festival-Produktionen und großen Namen, die in diesem
       Sommer durch Europa touren und auch in Hannover zwischenstoppen, entdecken
       die Theaterformen immer wieder Länder, die „in Deutschland wenig oder nur
       sehr einseitig wahrgenommen werden“, so Dirks. Im Fokus 2013 steht die
       durch viele Partner realisierte Kooperation mit dem Theater und
       Tanzfestival Connéxion Kin in Kinshasa, der
       Zehn-Millionen-Einwohner-Megapole der Demokratischen Republik Kongo.
       
       Man wolle dortige Künstler durch Gastspielprojekte die Teilhabe am globalen
       Austausch ermöglichen, durch Aufführungs auch Weiterbildungsmöglichkeiten
       verbessern. Drei Arbeiten wurden koproduziert und werden nach Hannover
       geholt. Gerade feiern sie Uraufführung in Kinshasa. Dirks ist vor Ort. Wir
       rufen sie an. „Es gibt hier große Armut ebenso wie allergrößten Luxus. In
       der Stadt wimmelt es von Künstlern, das hier ist ein Volk von
       Naturtalenten.“ Gerade habe sie „Drums and Digging“ im Institut Français
       gesehen. „Dort hat das Theater ein Dach, aber keine Wände, ansonsten wird
       meist open-air gespielt.“
       
       Regisseur Faustin Linyekula sei im besten Sinne „die Leitfigur der
       kongolesischen Theaterszene“, so Dirks. In dem Stück erinnert er sich an
       seine Kindheit, die Legenden, Mythen, Zeremonien der Gemeinschaft. Durch
       die Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln entstehe mit Mitteln des
       Sprechtheaters, Tanzes und durch Lieder ein Traum als wehmütige
       Liebeserklärung an eine Lebenskultur, die es nach diversen Bürgerkriegen so
       nicht mehr gibt.
       
       Befeuert werde die Suche, in der Gegenwart die Kraft für eine mögliche
       Zukunft zu finden. Eine stimmungs, geheimnisvolle, poetische Theaterform
       sei so entstanden, beschreibt Dirks. Und ein typischer Antrieb fürs
       Kulturschaffen zu erleben: „Dem Alltag Schönheit abgewinnen. Man sieht das
       hier überall, in der Mode, Musik und in den darstellenden Künsten.“
       
       Denn die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Realitäten seien
       heikel. Dirks: „Ich war bei einer Lesung, da zeigte sich, dass öffentliches
       Sprechen einen andern Stellenwert hat als bei uns. Hier wird über die
       Mächtigen nur noch gelacht, in der Kunst aber mit Andeutungen,
       Anspielungen, Umschreibungen, Metaphern gearbeitet, um andere Stimmen
       hörbar zu machen als die Demagogie der Politiker und der katholischen wie
       auch evangelikalen Kirchen.“
       
       Künstler würden schon mal ohne Vorwarnung im Gefängnis verschwinden und nie
       wieder auftauchen. Gerade in dieser Situation sei es umso beeindruckender,
       mit welch warmherziger Lebensfreude, positiver Energie und wahnsinnigem
       Humor in Kinshasa Theater gemacht würde.
       
       ## „Theaterformen“: 19. bis 30. Juni, Hannover
       
       17 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Fischer
       
       ## TAGS
       
   DIR Theater
       
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