# taz.de -- Diskussion zu den Protesten am Taksim-Platz: Der heterogene Charakter
> taz und das „Haus der Kulturen der Welt“ in Berlin luden zur
> Podiumsdiskussion. Türkische Wissenschaftler erörterten die Beweggründe
> der Proteste und den Verlauf.
IMG Bild: Die Diskussion: „Vom Taksim bis nach Iskenderun – Vereint im Protest, gespalten in der Politik“.
Das, was sich auf den Straßen der Türkei gerade abspielt, ist kein
„Türkischer Frühling“. Darin war man sich bei der Podiumsdiskussion am
Samstag in Berlin einig. Das Haus der Kulturen der Welt und die taz hatten
zur Runde „Vom Taksim bis nach Iskenderun – Vereint im Protest, gespalten
in der Politik“ geladen, um die verschiedenen Beweggründe für die Proteste
und deren Verlauf zu erörtern.
Bilgin Ayata, Politikwissenschaftlerin am Otto-Suhr-Institut, sieht eine
orientalistische Perspektive am Werk: „In den vergangenen Jahren haben die
westlichen Medien die Türkei in puncto islamische Demokratie verstärkt als
Vorbild für den Nahen Osten proklamiert. Da dieses Modell nun in sich
zusammenzubrechen droht, ziehen alle gemeinsam in die entgegengesetzte
Richtung, mit Vergleichen, die sie kennen, aber die unangemessen und nicht
hilfreich sind.“
Während die Aufstände in der arabischen Welt vermehrt aus wirtschaftlichen
Problemen und den Arbeiterstreiks entstanden, wurde die türkische
Protestbewegung von Studenten aus der oberen Mittelschicht initiiert, die
sich für ihre Bürgerrechte starkmachten. Die Dynamiken, die sich durch den
Widerstand im Istanbuler Gezi-Park entwickelten, führten dazu, dass heute
eine bunte Koalition aus Generationen, Kulturen und verschiedenen
politischen Lagern auf der Straße zusammenfindet.
Der Stadtentwickler Orhan Esen, der per Videochat live aus Istanbul
zugeschaltet wird, beobachtet einen gesellschaftlichen Umbruch, der
unabhängig von der politischen Opposition vonstatten geht: „Es gibt dieses
Stereotyp des klugen Istanbuler Taxifahrers, der immer nach einem
Ambulanzwagen Ausschau hält, um sich im Stau hinter ihm durchzumogeln. So
verhalten sich gerade alle politischen Parteien in der Türkei. Die
Bürgerbewegung hat den Weg zur Kritikfähigkeit frei gemacht, und die
Opposition schleicht hinterher.“
Der Architekt Mehmet Onur Yilmaz berichtet aus Ankara, dass immer noch
täglich gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und
Demonstranten zu beobachten seien und dass das von Erdogan versprochene
Referendum über die Bebauung des Gezi-Parks insofern keine Lösung des
Problems biete: „Es geht um die Polizeigewalt, die vier Menschenleben
forderte. Über 1.000 Demonstranten wurden hier festgenommen, aber nicht ein
einziger Polizist wird zur Verantwortung gezogen.“
Die Studentin Aylin Bahadirli aus Iskenderun spricht indessen von
kriegsähnlichen Zuständen in der an Syrien grenzenden Provinz Hatay. In der
Grenzstadt Reyhanli verloren bei einem Bombenattentat vor einem Monat 52
Menschen ihr Leben. „Die hiesigen Proteste richten sich in erster Linie
gegen Erdogans problematische Syrien-Politik.
Weder die Regierung noch die Medien haben diesem größten Attentat in der
Geschichte der türkischen Republik die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt.
Zudem gibt es an den Grenzen überhaupt keine Passkontrollen, und wir leben
in Unruhe mit Flüchtlingen zusammen, deren politische Motive nicht
eingeordnet werden können.“
Die unterschiedlichen Positionen verdeutlichen den heterogenen Charakter
der Protestbewegung, die sich nicht in absehbarer Zeit politisch
organisieren lässt. Doch zugleich ist bereits ein wichtiges Ziel erreicht
worden: Empathie im gemeinsamen Widerstand gegen die AKP-Regierung.
16 Jun 2013
## AUTOREN
DIR Fatma Aydemir
## TAGS
DIR Taksim-Platz
DIR Schwerpunkt Türkei
DIR Haus der Kulturen der Welt
DIR taz
DIR Gezi-Park
DIR Schwerpunkt Protest in der Türkei
DIR Deutsche Welle
DIR Schwerpunkt AKP
DIR Protest
DIR Schwerpunkt Türkei
DIR Recep Tayyip Erdoğan
DIR Schwerpunkt Türkei
DIR Gezi-Park
DIR Schwerpunkt Türkei
DIR Schwerpunkt Türkei
DIR Schwerpunkt Türkei
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR DW kooperiert mit Zensursender: Keine Lust auf Protest
Die BBC hat die Kooperation mit dem türkischen Sender NTV wegen
Zensurversuchen beendet. Der deutsche Auslandssender Deutsche Welle nicht.
DIR Kommentar Proteste in der Türkei: Erdogans gefährliches Pflaster
Mitten in den Unruhen schafft es die AKP eine perfekte Jubelorgie für
Erdogan zu veranstalten. Der Premier wettert gegen ausländische Medien. An
Deeskalation hat er kein Interesse.
DIR Solidarität mit Türkei-Protesten: Die Reise in den Aufstand
Die Auseinandersetzungen in der Türkei wirken anziehend: Dutzende deutsche
Aktivisten unterstützen inzwischen vor Ort die Demonstranten in Istanbul.
DIR Kommentar Erdogan: Die Paranoia des Ministerpräsidenten
Die Polizei hat das Istanbuler Stadtzentrum zur Hochsicherheitszone
erklärt. Möglichst viele europäische PolitikerInnen sollten jetzt in die
Türkei reisen.
DIR Neue Eskalationsstufe in Istanbul: Polizei attackiert Ärzte
Den ganzen Tag über liefern sich in Istanbul tausende Demonstranten
Auseinandersetzungen mit der Polizei. Und zum ersten Mal betreten
Erdogan-Anhänger den Protestort.
DIR Berliner Solidemo für türkische Aktivisten: Erdogan mit Hitlerbart
In Berlin gehen mehrere tausend Menschen auf die Straße. Sie feiern ihre
Solidarität mit der türkischen Demokratiebewegung.
DIR Proteste in Istanbul: „Schlaf nicht, Beşiktaş!“
Der Gezi-Park ist voll, als die Polizei das Camp stürmte. In den Stunden
danach herrscht auf den Straßen Istanbuls Chaos. Das Protokoll einer
gewaltsamen Nacht.
DIR Proteste in Istanbul: Tränengas im Foyer
Gaswolken, tränende Augen, verätzte Haut, schreiende Menschen. Wie unsere
Autorin die Nacht in einem Hotel neben dem Gezi-Park erlebt hat.
DIR Räumung des Gezi-Parks: „Verbrechen gegen Menschlichkeit“
Durch das brutale Vorgehen der Polizei soll es hunderte Verletzte gegeben
haben. Für Sonntag ruft das Protestbündnis zu einer Massendemo in Istanbul
auf.
DIR Proteste in Istanbul gehen weiter: Wasserwerfer ohne Nachtruhe
In der Nacht sind wieder Polizisten gegen Demonstranten vorgegangen. Allein
am Sonntag sollen in Istanbul über 400 Menschen festgenommen worden sein.