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       # taz.de -- Proteste in Istanbul: Der kranke Mann am Bosporus
       
       > Regierungschef Erdogan hat auf dem Taksim-Platz einen Pyrrhussieg
       > erreicht. Die Zeit autoritärer Patriarchen in der Türkei neigt sich dem
       > Ende zu.
       
   IMG Bild: Kein Islamist, sondern Populist: Recep Tayyip Erdogan
       
       Erdogans politischer Ziehvater Necmettin Erbakan, das war noch ein
       waschechter Islamist. Mit seiner Idee, auf dem zentralen Taksim-Platz in
       Istanbul eine große Moschee errichten zu lassen, schockte der 2011
       verstorbene Politiker in den späten 1990er Jahren die säkularen Eliten der
       Türkei. Wenig später wurde er, als er es kurzzeitig zum Ministerpräsidenten
       geschafft hatte, vom damals noch allmächtigen Militär durch einen kalten
       Quasiputsch abserviert und an den Rand gedrängt.
       
       Sein Nachfolger Recep Tayyip Erdogan ist kein Islamist, sondern ein
       Populist, der es mit religiös-konservativer Rhetorik an die Macht gebracht
       hat. Sein Plan, auf dem Gelände des Gezi-Parks am Taksim-Platz eine alte
       osmanische Kaserne in ihrem Grundriss wiederauferstehen zu lassen, zeigt,
       worin er sich von Erbakan unterscheidet. Dass in den historisierenden
       Neubau ein Einkaufszentrum einziehen soll, ist bezeichnend. Ein
       Shoppingcenter mit osmanisch anmutender Fassade: ein besseres Sinnbild für
       Erdogans Politik lässt sich kaum finden. Denn Erdogan steht für eine
       neoliberale Politik, die er mit religiös-konservativer Rhetorik und
       Symbolik übertüncht.
       
       Lange hat sich Erdogan als Macher präsentiert. Die Wirtschaft des Landes
       wuchs stetig, er hat die Armee entmachtet und die Wirtschaft liberalisiert,
       sein Land damit modernisiert und die Gesellschaft geöffnet. Doch weil er
       selbst immer selbstherrlicher, autoritärer und aggressiver gegenüber seinen
       Gegnern auftritt, hat er inzwischen große Teile der Bevölkerung gegen sich
       aufgebracht. Frauen verschreckte er mit seinem Appell, mehr Kinder zu
       gebären, liberale Türken mit eher symbolischen Einschränkungen beim
       Alkoholverkauf.
       
       Auch religiöse Minderheiten wie die Aleviten stößt er gerne vor den Kopf.
       Doch es sind vor allem eine ganze Reihe gigantischer Bauvorhaben in und um
       Istanbul, von denen das Projekt am Taksim-Platz nur eines ist, die nun das
       Fass zum Überlaufen gebracht haben. Ihnen allen ist gemein, dass sie
       handstreichartig von Erdogan selbst verkündet wurden, ohne dass er eine
       öffentliche Debatte darüber zuließ.
       
       ## Bunte Vielfalt auf dem Taksim-Platz
       
       Die Auseinandersetzung um den kleinen Gezi-Park mitten in Istanbul hat so
       unterschiedliche Gruppen wie Naturschützer, Künstler und Intellektuelle,
       „antikapitalistische Muslime“, Feministinnen und Homosexuelle, aber auch
       Kurden und Aleviten zusammengebracht. Während die einen öffentlich
       Yoga-Übungen machten, knieten andere in einer Ecke zum Gebet nieder. Diese
       bunte Vielfalt auf dem Taksim-Platz war nicht nur ein Spiegelbild der
       gesellschaftlichen Vielstimmigkeit der Türkei, sondern auch ein beredtes
       Gegenbild zu dem sterilen, stromlinienförmigen, ultrakapitalistischen und
       letztlich seelenlosen Gesellschaftsmodell der AKP.
       
       Die Proteste haben auch jede Menge Trittbrettfahrer angezogen, doch das
       blieben bizarre Randerscheinungen. Denn die Proteste haben vor allem
       deutlich gemacht, welche Lücke in der politischen Landschaft der Türkei
       bisher klafft. Es fehlt eine politische Kraft, die für ein anderes
       Wirtschaftssystem steht, für mehr Bürgerbeteiligung und liberale Werte.
       Denn auch die bisherigen Oppositionsparteien stehen für den autoritären
       Staat und, in ökonomischer Hinsicht, für kein anderes Wachstumsmodell als
       die AKP, die „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“, deren Symbol nicht
       von ungefähr eine leuchtende Glühbirne ist.
       
       Die Türkei hat in den letzten Jahren einen immensen Wirtschaftsboom erlebt,
       und Istanbul ist zum „Must see“-Reiseziel und zum Drehkreuz des Welthandels
       geworden. Doch immer mehr Menschen fühlen sich von dieser Entwicklung
       bedroht. Das gilt nicht nur für Istanbul, das durch den Aufschwung und eine
       rabiate Stadtentwicklungspolitik einen radikalen Umbau erlebt.
       
       Das gilt längst auch für das ländliche Anatolien, wo im Südosten riesige
       Staudammprojekte und am Schwarzen Meer ein Atomkraftwerk geplant sind. Sie
       sollen den wachsenden Energiehunger des Landes stillen, aber die
       ökologischen Kosten sind nicht absehbar. Auch die Wählerbasis der AKP ist
       davon betroffen – und begehrt dagegen langsam auf.
       
       ## Erdogan wird zur tragischen Figur
       
       Turbokapitalismus mit islamischem Antlitz: Mit seiner Mischung aus
       Fortschrittsgläubigkeit und autoritärem Auftreten erinnert Erdogan immer
       mehr an einen konservativen Politiker in Europa aus der Zeit der
       Wirtschaftswunderjahre. Manche vergleichen die Proteste in der Türkei
       deshalb mit einer Art türkischem „1968“, als die Jugend Europas gegen ihre
       Väter aufbegehrte und deren Werte und Vorstellungen von Modernität in Frage
       stellten.
       
       In der Tat könnten sie eine ähnliche Zeitenwende darstellen. Die Zeit der
       Patriarchen, die sagen, wo es langgeht, und mit der Faust auf den Tisch
       hauen, sie geht auch in der Türkei allmählich ihrem Ende entgegen. Die
       vielstimmige Zivilgesellschaft fordert ihr Mitspracherecht ein – und macht
       sich über die Autoritäten lustig.
       
       Will Erdogan seine politische Zukunft nun wirklich an den Bau einer
       kitschigen Shopping Mall mit historisierender Fassade knüpfen? Es sieht
       ganz danach aus. Doch durch sein stures Festhalten an dem Bauprojekt droht
       er, zur tragischen Figur zu werden, weil er die Zeichen der Zeit verkennt.
       Mit der gewaltsamen Räumung des Taksim-Platzes hat er zwar seine Macht
       gezeigt, doch es dürfte ein Pyrrhussieg sein.
       
       Denn seine Chancen, sich durch eine Verfassungsreform als Staatspräsident
       mit noch mehr Vollmachten an die Spitze des Staates wählen zu lassen, wie
       er es mal vorhatte, sind dadurch stark gesunken. Seine Stammwähler weiß er
       weiter hinter sich. Aber für eine verfassungsändernde Mehrheit dürfte es
       kaum reichen: Dafür ist Erdogan einfach zu wenig präsidial und versöhnlich
       aufgetreten.
       
       Für die Türkei ist das eine gute Nachricht. Mit dem Abschied von der Idee,
       dass es an der Spitze einen starken Patriarchen wie ihn braucht, steigen
       die Chancen für politischer Kompromisse – und damit die Chance auf eine
       weitere Demokratisierung des Landes. Das aber ist auch die Voraussetzung,
       um den Weg nach Europa weiter zu beschreiten.
       
       12 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Bax
       
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