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       # taz.de -- Die Wahrheit: Hooligans des Reims
       
       > Früher ḱannte man das fanatische Rabaukentum nur aus Fußballstadien,
       > heute treiben Lyrigans bei Lyriklesungen ihr Unwesen.
       
   IMG Bild: Niemand kann erklären, warum gerade Lyrik heute die Hooligans so bewegt.
       
       Nicht erst seit der immer schonungsloser wütenden Verwahrlosung im
       zwischenmenschlichen Miteinander hat auch die kulturelle Landschaft immense
       Kollateralschäden zu beklagen. Eine logische Konsequenz, da Kultur laut dem
       Göttinger Philosophen Jérôme Feuerbach ohnehin nichts weiter ist „als die
       Brillanz des Lebens mit gebrüllten Mitteln“.
       
       Galten etwa bis vor wenigen Jahren noch Fußballstadien als kollektiver Hort
       unzivilisierten Benehmens, so schwappen in jüngster Zeit die dort
       praktizierten archaischen Brimborien mehr und mehr auch auf andere Bereiche
       über. Denn seit immer mehr Stadionverbote wegen nachgewiesenen Rabaukentums
       ausgesprochen werden, suchen sich die Pöbler und Rempler ein anderes
       Schlachtfeld. Und zwar eines, das bis dato nahezu unbefleckt von derlei
       rabiaten Übungen blieb: Lyriklesungen.
       
       Der ehemalige Fanbeauftragte des Regionalligavereins TuS Wonzbach und
       begeisterte Hobbyleser Herbert Kastner weiß beispielsweise zu berichten:
       „Es war schon etwas ungewöhnlich, als unsere Wonzbacher Ultras völlig
       überraschend und in voller Fanmontur im Bürgerhaus auf einer Lesung unseres
       Heimatdichters Benno Martens auftauchten. Mit ihren Fangesängen aber
       wollten sie zum Ausdruck bringen, dass Martens literarisch höher
       einzustufen ist als der im Nachbardorf beheimatete Romancier Frederick
       Berger.“
       
       Kastner weiter: „Man kannte diese Schlachtrufe ja bisher nur aus dem
       Stadion. Doch ich muss zugeben, als die komplett mit Martens-Trikots,
       Schals und Fahnen ausgestatteten zehn Mann anfingen ’Berger, wir wissen, wo
       dein Auto steht!‘ zu singen, konnte man sich einer gewissen Faszination
       nicht entziehen. Eine Stimmung, die sich beim anschließenden
       ’Schalalalalaaaa – Berger, du Arschloch‘ sogar noch zuspitzte.“
       
       Doch Kastner war nicht der einzige, den die ungewöhnlichen Besucher zu
       begeistern wussten. Die sonst eher verhaltenen Lesungsbesucher ließen sich
       nur allzu gern mitreißen und stimmten nahezu geschlossen mit in die
       Schmähgesänge auf Frederick Berger ein.
       
       Den Kulturphilosophen Jérôme Feuerbach überrascht das nur wenig. Die
       Fankultur, so Feuerbach, sei eine durchaus flexible ideologische Bewegung,
       die sich letztlich nur wenig darum schert, für wen geschwärmt oder gegen
       wen gezetert wird.
       
       Demografische Erhebungen bestätigen Feuerbachs These. Laut einer Studie des
       Instituts für nebensächliche Randphänomene (InRph) zeigten sich
       erstaunliche 43 Prozent der Befragten in ihren kulturellen Vorlieben
       durchaus flexibel und von außen beeinflussbar, wohingegen lediglich 43
       Prozent sich für eine gewisse Beharrlichkeit in den eigenen kulturellen
       Interessen aussprachen. Ein erschütterndes Ergebnis, dass auch von
       sämtlichen Bundestagsfraktionen mit Argwohn zur Kenntnis genommen wurde.
       Lediglich der Rechtsexperte der Linkspartei, Roland Riemers, gab sich
       gewohnt wertneutral: „Wir sind da eher geradeaus.“
       
       Der im Wonzbacher Bürgerhaus geschmähte Lyriker Frederick Berger gab sich
       in einem Interview mit einer Regionalzeitung umso besorgter: „Ich weiß von
       vielen Kollegen, dass die Vorfälle in Wonzbach leider kein Einzelfall sind.
       So wurde erst im vergangenen Monat der Darmstädter Experimental-Lyriker und
       Performance-Künstler Gerd-Claude Lejeunne im Rahmen einer Lesung von Fans
       seiner kulturellen Widersacherin, der Lyrik-Experimentalisten Sabine
       Dotzner-Eschenbach, wiederholt beschimpft und mit ’Der kann nix‘-Gejohle in
       seiner Darbietung gestört.“
       
       Inwieweit solche Lyrik-Hooligans lediglich ein vorübergehendes Zeichen der
       Zeit sind, oder ob man sich in Zukunft tatsächlich an sie gewöhnen muss,
       steht einmal mehr in den Sternen. Das InRph warnt jedoch ausdrücklich
       ebenso vor rechtsradikalen wie anarchistischen Tendenzen im Rahmen des
       sogenannten Lyriganism. Vereinzelt sei von Seiten der Lyrigans nämlich
       bereits zur Abkehr von den in Gesellschaft und Kultur bewährten Regeln der
       Orthografie und Interpunktion aufgerufen worden, wenn auch „Lest nicht beim
       Duden!“-Schmierereien an Buchhandlungen glücklicherweise noch immer die
       Ausnahme seien. JÖRG SCHNEIDER
       
       11 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jörg Schneider
       
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