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       # taz.de -- Gymnasien mit zwei Geschwindigkeiten: Zwei Wege führen zum Abiturfoto
       
       > An vier Gymnasien in Schleswig-Holstein können die Eltern bereits wählen,
       > wie schnell ihre Kinder Abitur machen sollen. Ein Besuch beim
       > Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Gymnasium in Barmstedt.
       
   IMG Bild: Hauptsache Strich drunter - ob's acht oder neun Jahre gedauert hat, schert in Barmstedt keinen.
       
       BARMSTEDT taz | Das Foto wird in die Familiengeschichte eingehen. Einige
       Schüler, ihre Eltern und Großeltern werden es in Bilderrahmen aufhängen –
       wahrscheinlich wird es die Lokalzeitung und die Schulchronik abdrucken,
       vielleicht landet es auch bei Facebook: Das Abschlussfoto des
       Abiturjahrgangs 2013 am Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Gymnasium in
       Barmstedt, einem 10.000 Einwohner-Städtchen im Norden von Hamburg.
       
       Die rund 60 Schüler haben sich auf dem Sportplatz an ihrem Schulgelände
       aufgestellt, ein Fotograf auf einer Klappleiter dirigiert sie hin und her.
       Doch so richtig loslegen können sie nicht, es fehlen Leute. „Lass uns noch
       auf die Nachzügler warten“, sagt einer.
       
       Im Landesvergleich sind die meisten von ihnen Nachzügler. Der überwiegende
       Teil ging neun Jahre hier zur Schule, Standard in Schleswig-Holstein ist
       der achtjährige Weg zum Abitur an Gymnasien. Am Barmstedter Gymnasium ist
       beides möglich, die Eltern können vor der fünften Klasse wählen, ob es das
       Turbo-Abi für ihr Kind sein soll (G 8) oder der traditionelle neunjährige
       Weg zum Abitur (G 9) an einem Gymnasium. Nach so einer Wahlmöglichkeit
       sehnen sich manche Eltern, die ihre Kinder gerne auf ein Gymnasium schicken
       wollen, aber das Turbo-Abi ablehnen. Den neunjährigen Weg zum Abitur gibt
       es in Schleswig-Holstein regelhaft nur an Gemeinschaftsschulen.
       
       Wer von den etwa 60 Schülern auf dem Sportplatz wie lange auf der Schule
       war, wissen auch viele Lehrer nicht mehr so genau, denn in den
       Oberstufenklassen war die Gruppe schon gemischt. Die G 8-Schüler sind nach
       der neunten Klasse in die Oberstufe gekommen, die G 9-Schüler nach der
       zehnten. Das alles bedeutet für die Schule etwas mehr Organisationsaufwand,
       doch zwei Wege zum Abitur zu managen, ist die Schulleitung um Wolf R.
       Salbrecht gewohnt. Vor rund zehn Jahren beteiligte sich das Gymnasium in
       Barmstedt an den ersten Pilotprojekten zum achtjährigen Abitur in
       Schleswig-Holstein, allerdings mit nur jeweils einer Klasse. Die Mehrheit
       der Schüler blieb bei G 9. G 8 war hier ein Angebot für die besonders
       leistungsstarken Schüler mit Gymnasialempfehlung – und ist es noch. G 8 ist
       in Barmstedt eine Art Gymnasium plus, eine weitere Selektionsstufe.
       
       „Wir haben so sehr homogene Lerngruppen“, sagt Salbrecht in seinem mit
       Kiefermöbeln ausgestatteten Büro. An der Wand hängt eine Tafel voll mit
       Magneten in verschiedenen Formen und Farben – hier plant er, welcher Lehrer
       in welcher Klasse unterrichten soll. Seine Erfahrung: „20 bis 30 Prozent
       eines Jahrgangs sind für G 8 geeignet.“ Zwischenzeitlich musste auf Geheiß
       des Kieler Bildungsministeriums auch das Barmstedter Gymnasium komplett auf
       G 8 umstellen. Mit spürbaren Folgen: Die Schule verlor Schüler, es kamen
       nur noch drei Züge pro Jahrgang zusammen.
       
       Für Salbrecht und seine Kollegen war klar: „Nur G 8, das ist nicht das, was
       wir wollen.“ Unter dem FDP-Bildungsminister Ekkehard Klug bekamen sie die
       Möglichkeit, auch G 9 anzubieten. Drei weitere Gymnasien im Land gingen den
       gleichen Weg, so dass es in Schleswig-Holstein heute vier „Y-Gymnasien“
       gibt.
       
       Jetzt hat Salbrecht Probleme, wenigstens eine G 8-Klasse vollzubekommen.
       „Wir appellieren an die Eltern von Schüler mit sehr gutem Grundschulzeugnis
       aus Barmstedt, solidarisch zu sein, und ihr Kind doch für G 8 anzumelden.“
       Die Logik: Wenn dem von-Weizsäcker-Gymnasium ein G 8-Jahrgang fehlt, ist
       ein Oberstufen-Jahrgang kleiner und die Schule kann weniger besondere
       Profile anbieten, die im Wettbewerb um Schüler und Eltern wichtig sind. In
       den Städten in der Nähe gibt es weitere weiterführende Schulen.
       
       Viele der Schüler kommen aus dem ländlichen Umland. Und gerade für die
       Fahrschüler, die 40 Minuten und mehr unterwegs sind, sei der zeitliche
       Aufwand ein Argument gegen G 8, sagt Salbrecht. „Manche müssen um 5 Uhr
       aufstehen, um pünktlich in der Schule zu sein.“
       
       Im Unterricht spüre man den Unterschied zwischen G 8 und G 9 nicht, sagt
       Salbrecht. Nur an manchem Nachmittag könne man doch einen Unterschied
       sehen: Dann seien viele Oberstufenschüler noch hier – und die jüngeren G
       8-Schüler. Die G 9er seien dann bereits zu Hause.
       
       Salbrecht hat Schüler ausrufen lassen, die von ihren Erfahrungen berichten
       sollen. Schüler wie Jule-Marie Dittmer, die ihr Einser-Abi in acht Jahren
       gemacht hat und sagt, dass das für sie genau „die richtige Entscheidung“
       gewesen sei. Freizeit habe ihr nicht gefehlt. In der Oberstufe habe man
       gemerkt, dass die G 8er sich besser selbst organisieren können.
       
       Auch Florian Lienau ist ein ziemlich guter Schüler, aber weil er schon in
       der Grundschule eine Klasse übersprungen hat, ist er in einer G 9-Klasse
       gewesen. Jetzt besucht er die Oberstufe und engagiert sich in der
       Schülervertretung der Schule, in der Landesschülervertretung, in einer
       Partei und bei den Rettungsschwimmern. Er glaubt nicht, dass sein
       Engagement viel anders aussehen würde, wäre er G 8-Schüler. „Vielleicht
       wäre ich nicht in die Landesschülervertretung gegangen“, sagt er. Für die
       Schüler sei das Y-Modell an sich kein großer Diskussionspunkt. Allerdings
       interessiere die Schüler natürlich, ob das Modell bei Schulgesetzreformen
       überlebe – im aktuellen Entwurf der Landesregierung ist das der Fall.
       
       Auch wenn man sich unter den Abiturienten ohne Beisein des Direktors
       umhört, ist das Y-Modell kein großes Thema. Die G 8er freuen sich, dass sie
       früher durchstarten können, die G 9er über eine entspanntere Schulzeit. Es
       finden sich leicht Schüler, die eigentlich G 9 machen wollten, wegen ihrer
       Freunde, aber dann doch zu G 8 abgeworben worden sind – wegen ihres guten
       Zeugnisses.
       
       In Barmstedt gibt es auch eine Gemeinschaftsschule, sie liegt etwa einen
       Kilometer vom Gymnasium entfernt. Im Prinzip sind die beiden Schulen
       Konkurrenten: Schüler mit Gymnasialempfehlung können auf beide Schulen
       gehen. Eigentlich sollte die Regelung, dass es G 9 nur an
       Gemeinschaftsschulen gibt, Eltern dazu bringen, ihre Kinder mit
       Gymnasialempfehlung hierhin zu schicken. Dieses Argument fehlt Salbrechts
       Kollegen nun, aber Streit gebe es deswegen nicht, sagt Salbrecht: Die
       Gemeinschaftsschule hat keine eigene Oberstufe, die Schüler können in die
       Oberstufe des Friedrich-von-Weizsäcker-Gymnasiums wechseln. Auch persönlich
       bemühe man sich um ein gutes Klima, sagt Salbrecht: „Wir grillen heute
       zusammen.“
       
       Bernd Poepping, er leitet die Grund- und Gemeinschaftsschule, sagt, dass es
       nicht nur um interne Konkurrenz, sondern auch um die Konkurrenz von außen
       gehe. Er denkt an die Gemeinschaftsschulen in Tornesch und Pinneberg. Ein
       bis zwei Schüler pro Klasse fangen bei ihm mit einer Gymnasialempfehlung in
       der fünften Klasse an. „Natürlich hätte ich gerne ein ausgewogeneres
       Verhältnis“, sagt Poepping. Doch das sei für seine Schule keine
       existenzielle Frage. Es gebe genug Nachfrage von anderen Schülern.
       
       Das Y-Modell könne regional teilweise Sinn ergeben, sagt Stefan Hirt, er
       sitzt im Landeselternbeirat der Gemeinschaftsschulen in Schleswig-Holstein.
       Allerdings: „Wenn Gemeinschaftsschule und Gymnasien auf dem gleichen
       Schulgelände sind, dann ist es schon komisch, wenn das Gymnasium auch G 9
       anbietet.“ Diese Fälle gebe es in Kiel und Satrup.
       
       Seine Forderung ist klar: Gemeinschaftsschulen sollen auch zum Abitur
       führen. Und: Es dürfe nicht nur nach den Gymnasien gehen. „Die können nicht
       einfach anbieten, was sie wollen.“ Es sei wichtig, dass ihr Angebot in die
       Schulbedarfsplanung für eine Region passe.
       
       Inzwischen ziehen die Abiturienten in Barmstedt hinüber in die etwas
       geschmückte Sporthalle, zur Entlassungsfeier. Es gibt große Abschiedsreden,
       die Preise der Schule werden verliehen. Preisträger sind sowohl G 8er als
       auch G 9er – doch darauf achtet niemand mehr.
       
       10 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Kummetz
       
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