URI: 
       # taz.de -- Das Massaker von Oradour: Der Hass verlor sich
       
       > Vor 69 Jahren töten Männer der Waffen-SS über 600 Menschen in dem
       > französischen Dorf Oradour-sur-Glane. Erst 2013 besuchten deutsche
       > Ermittler den Ort.
       
   IMG Bild: Die Führungen durch das Ruinendorf sind nach wie vor keine Routine für ihn: Robert Hébras, Überlebender des Mssakers von Oradour.
       
       ORADOUR-SUR-GLANE taz | Die Gassen von Oradour wirken wie die Kulissen
       eines Kriegsfilms. Nur die Grundmauern der Häuser stehen noch, manche haben
       verrostete Fensterläden, im Innern wuchern Pflanzen. Einige
       Alltagsgegenstände haben die Zeit überdauert: eine Singer-Nähmaschine, ein
       verschnörkeltes Bettgestell, Autos mit imposanten Kühlergrills und
       geschwungenen Schutzblechen.
       
       „Hier habe ich mit meiner Familie gewohnt“, sagt Robert Hébras und zeigt
       auf ein Haus. An den halb eingefallenen Mauern sind noch schwarze
       Brandspuren zu erkennen. „Als die Nazis kamen und uns befahlen, uns auf dem
       Dorfplatz zu sammeln, spülte meine Mutter gerade Geschirr. Sie war so
       überrascht, dass sie mit dem Trockentuch in der Hand rausging.“
       
       Der 87-Jährige Franzose führt bis heute regelmäßig Besucher durch das
       Ruinendorf, das als Mahnmal des schlimmsten Kriegsverbrechens der Nazis in
       Frankreich erhalten blieb. Unzählige Male hat er seine Geschichte erzählt –
       wie die Waffen-SS an jenem heißen Junitag in sein Dorf kam, die Männer in
       Scheunen sperrte, Frauen und Kinder in die Kirche, und wie er selber in
       letzter Minute dem Massaker entkam.
       
       „Die Führungen sind keine Routine für mich, es berührt mich immer noch“,
       sagt er. „Ich tue es um der Opfer willen.“ Hébras schildert die Ereignisse
       von damals mit ruhiger Stimme, präzise, ohne Pathos. Immer wieder macht er
       Pausen, damit die Besucher den eigentümlichen Ort auf sich wirken lassen
       können.
       
       ## Willkürliche Strafaktion
       
       In dem südwestfranzösischen Dorf im Departement Haute-Vienne töteten
       Soldaten der Waffen-SS im Juni 1944 fast sämtliche Einwohner und setzten
       ihre Häuser in Brand. 642 Menschen kamen ums Leben. Die Gründe für den
       Massenmord wurden nie ganz geklärt, vermutlich war es eine willkürliche
       Strafaktion, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Kurz zuvor waren die
       Alliierten in der Normandie gelandet, der Widerstand gegen die deutschen
       Besatzer wuchs.
       
       Die bundesrepublikanische Justiz ließ die für das Massaker Verantwortlichen
       weitgehend unbehelligt. Erst in jüngster Zeit hat ein Dortmunder
       Staatsanwalt Ermittlungen gegen eine Handvoll Verdächtiger aufgenommen.
       
       Hébras geht langsam die Stufen zur ehemaligen Kirche hinauf, in der er als
       Junge Messdiener war. Die Rundbögen aus hellem Sandstein sind intakt, doch
       das Dach fehlt. Vor dem Altar liegen verrostete Überreste eines
       Kinderwagens. „Hier kamen vermutlich meine Mutter und meine Schwester
       Denise ums Leben“, sagt er.
       
       ## 80 Centimeter hoch lag die Asche
       
       Etwa 450 Frauen und Kinder hatten die deutschen Soldaten in der Kirche
       eingesperrt. Sie ließen einen Sprengsatz detonieren und schossen mit
       Maschinengewehren in die Menge. Anschließend verteilten sie Stroh und
       Reisig auf den Toten und Verletzten und setzten die Kirche in Brand. „80
       Zentimeter hoch lag hier die Asche der Opfer“, berichtet der alte Mann und
       zeigt auf eine Seitenkapelle. „Die meisten von ihnen konnte man nicht mehr
       identifizieren.“
       
       Der damals 20-Jährige schloss sich bald nach dem Massaker der französischen
       Résistance an, erfüllt vom Hass auf die Mörder seiner Familie. Als der
       Krieg vorbei war, kehrte er in seine Heimat zurück. Ein neues Oradour
       entstand, in Sichtweite der abgebrannten Ruinen. Wie konnte Hébras es
       aushalten, in der Nähe dieses Ortes zu bleiben? „Ich habe mir nie die Frage
       gestellt. Ich hatte Arbeit hier in einer Autowerkstatt, später habe ich
       mich selbstständig gemacht. Es hat sich so ergeben.“
       
       Sein Hass auf die Täter schwand mit der Zeit, irgendwann überwog das
       Pflichtgefühl. Die Pflicht, Zeugnis abzulegen. Zu berichten, was sich an
       jenem 10. Juni in Oradour zugetragen hat. Immer und immer wieder. Besuchern
       die Relikte des zerstörten Dorfes zu zeigen, in dem die Zeit stehen
       geblieben scheint. „Heute sind wir nur noch zwei Überlebende“, sagt er.
       
       ## Ein neues Leben in Paris
       
       Marcel Darthout ist 89 Jahre alt, gesundheitlich angeschlagen, aber im Kopf
       hellwach. Anders als Hébras hat er nach dem Massaker seine Heimat verlassen
       und sich in Paris ein neues Leben aufgebaut. Erst im Ruhestand zog es ihn
       wieder in die Nähe von Oradour. Er wohnt eine Viertelstunde von dem
       Ruinendorf entfernt, in einer idyllischen Hügellandschaft voller Obstbäume.
       
       Auch sein Umgang mit der Erinnerung unterscheidet ihn von Hébras. Darthout
       fällt es nicht leicht, von damals zu berichten. Mit kleinen
       Trippelschritten bewegt er sich durch sein Wohnzimmer, um eine dicke
       Aktenmappe aus dem Schrank zu holen. „Sehen Sie sich diesen Brief an“, sagt
       er und zieht ein vergilbtes Papier hervor. Der Falz in der Mitte ist
       bräunlich verfärbt.
       
       „Das ist das Blut meines Freundes Joseph. Er lag auf mir, als er starb.
       Sein Körper hat mich geschützt“, sagt der alte Mann unvermittelt. Die
       grausame Erfahrung, die Tat ist plötzlich ganz nah, fühlbar geworden. Nach
       und nach berichtet Darthout, wie er den Tag erlebt hat, an dem die
       Waffen-SS willkürlich eine ganze Dorfgemeinschaft ausrottete.
       
       ## Angst hatte er zunächst nicht
       
       Kurz vor zwei Uhr nachmittags war es, als die Deutschen kamen. Das weiß er
       noch genau, denn er wartete darauf, dass sein Freund Joseph den
       Friseurladen wieder öffnen würde. Beide spielten in derselben
       Fußballmannschaft, und am nächsten Tag stand ein wichtiges Spiel an. Auf
       einmal war Autolärm zu hören. Mehrere Fahrzeuge der Waffen-SS fuhren ins
       Dorf hinein.
       
       Der junge Mann lief nach Hause zu seiner Frau Angèle. Zwei SS-Soldaten
       befahlen ihnen, das Haus zu verlassen. „Sie waren jung, vielleicht so alt
       wie ich“, erinnert sich Darthout. „Raus, raus!“, brüllten die Deutschen.
       Der alte Mann wiederholt die Worte mehrfach, die sich ihm tief ins
       Gedächtnis eingegraben haben. „Raus, raus!“
       
       Angst hatte er nicht. Die Deutschen erklärten, dass sie in Oradour
       lediglich nach Waffen suchen wollten. Sie verteilten die Männer
       gruppenweise auf mehrere Scheunen. „Die Stimmung war entspannt. Wir hockten
       auf den Strohballen und redeten weiter über Fußball“, erinnert sich Marcel
       Darthout.
       
       ## Der Körper des Freundes über ihm
       
       Da zerriss eine Explosion die Stille des lauen Sommernachmittags. Es war
       das Signal für die Soldaten, mit ihren Maschinengewehren auf die
       eingesperrten Menschen zu feuern. Panik brach aus. Tote und Verletzte
       taumelten zu Boden. „Zwei Kugeln trafen mich am Bein, überall war Blut, die
       Verletzten röchelten“, erinnert sich Darthout. Seine Stimme stockt, er hält
       inne.
       
       „Ich lag unter Joseph und spürte, wie ein letztes Zittern durch seinen
       Körper ging, dann war er tot“, berichtet er weiter. Nach wenigen Minuten
       war die Schießerei vorbei, die Soldaten gingen fort und kamen nach einer
       Weile wieder, um Stroh und Reisig auf den Opfern zu verteilen. Darthout
       erinnert sich an das Geräusch, wie sie Streichhölzer anrissen. Die Flammen
       breiteten sich schnell aus.
       
       Fünf Männern gelang es, aus der brennenden Scheune zu fliehen und sich vor
       den deutschen Soldaten zu verstecken, unter ihnen Hébras und Darthout.
       Beide erfuhren erst in den nächsten Tagen vom Ausmaß des Massakers.
       
       „Natürlich machte ich mir Sorgen um meine Frau, aber ich hatte keinen
       Moment gedacht, dass die Soldaten auch unsere Frauen und Kinder töten
       würden“, sagt Darthout und schüttelt den Kopf, als sei ihm die Grausamkeit
       noch immer unbegreiflich.
       
       ## Deutsche Ermittler
       
       Der damals 20-Jährige schrieb sich seine Erlebnisse einige Monate später in
       einem ausführlichen Bericht von der Seele. Die DEUTSCHEN tippte er immer in
       Großbuchstaben, oder er nannte sie boches, mit dem französischen
       Schimpfwort für Deutsche. „Meine Wunden sind inzwischen geheilt, bis auf
       eine, die im Herzen. Dort siedet ein Hass auf den boche, den ich in die
       ganze Welt hinausrufen möchte“, endete sein Bericht, den er zwei Tage vor
       Weihnachten 1944 verfasste.
       
       Heute blättert der alte Mann gedankenverloren in vergilbten und brüchig
       gewordenen Kopien seiner Aufzeichnungen. „Ja, das habe ich damals so
       empfunden“, sagt er, und es klingt beinahe entschuldigend. Später sei der
       Hass auf die Deutschen verloschen.
       
       So unterschiedlich die Lebensgeschichten und Charaktere der beiden letzten
       Überlebenden von Oradour sind – in diesem Punkt ähneln sie sich sehr: Hass
       und Rachegefühle sind längst vergangen. Was zählt, ist die Versöhnung
       zwischen den Völkern.
       
       ## Keine großen Hoffnungen auf einen Prozess
       
       Als Anfang des Jahres erstmals deutsche Ermittler nach Oradour kamen, haben
       Hébras und Darthout bereitwillig ausgesagt. „Ob es tatsächlich zu einem
       Prozess kommt, ist fraglich. Ich setze keine großen Hoffnungen darauf“,
       meint Darthout.
       
       Im kommenden Jahr wird Oradour zum 70. Jahrestag an das Massaker erinnern.
       Bislang hat noch nie ein hochrangiger Vertreter der Bundesregierung an den
       Gedenkfeiern teilgenommen. „Das wäre doch eine gute Gelegenheit, dass mal
       jemand käme“, sagt der alte Mann und legt mit alterssteifen Fingern seine
       Dokumente sorgfältig zusammen.
       
       Dabei gleitet ein Schwarz-Weiß-Foto mit Büttenrand aus dem Stapel. Eine
       Fußballmannschaft ist darauf zu sehen, elf junge Männer in kurzen Hosen und
       Kniestrümpfen. „Der Große mit den abstehenden Ohren, das bin ich“, sagt
       Darthout und lächelt. „Und der Kleine daneben: Das war mein Freund Joseph.“
       
       10 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Koltermann
       
       ## TAGS
       
   DIR SS-Massaker
   DIR Waffen-SS
   DIR Schwerpunkt Nationalsozialismus
   DIR Schwerpunkt Frankreich
   DIR Waffen-SS
   DIR Kriegsverbrechen
   DIR Elsass
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Verfahren gegen SS-Mann abgelehnt: Vorwürfe nicht nachweisbar
       
       Das Landgericht Köln lehnt ein Verfahren gegen 89-Jährigen wegen
       mutmaßlicher Beteiligung am Massaker in Oradour-sur-Glane 1944 ab.
       
   DIR Kein Verfahren gegen SS-Mann: Taten nicht mehr nachweisbar
       
       In Köln wird ein 89-Jähriger nicht wegen der Teilnahme an einem SS-Massaker
       angeklagt. Das Gericht geht davon aus, dass seine Beteiligung nicht mehr
       belegbar ist.
       
   DIR Deutsch-französische Freundschaft: „Die Toilette Europas“
       
       Den Franzosen erscheint es deutsch, den Deutschen französisch: Das Elsass.
       Viele Bewohner sehen ihre doppelte Kultur heute positiv.
       
   DIR Hausdurchsuchungen bei Altnazis: Späte Ermittlungen nach SS-Massaker
       
       Die Staatsanwaltschaft durchsucht die Wohnungen von sechs ehemaligen
       SS-Mitgliedern. Sie werden verdächtigt im Jahr 1944 Kriegsverbrechen
       begangen zu haben.