URI: 
       # taz.de -- Pädophile im linksalternativen Milieu: Die Freude am Tabubruch
       
       > Es begann mit der Anerkennung frühkindlicher Sexualität. Die befreite
       > Gesellschaft war das Ziel. Erst Mitte der Achtziger nahm die
       > Alternativszene Abstand.
       
   IMG Bild: Daniel Cohn-Bendit: Mit „Liberalisierungseifer gegen die spießige Sexualfeindlichkeit“ (Archivbild von 1968)
       
       Der heutige Grünen-Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit berichtete in seinem
       1975 publizierten Buch „Der große Basar“ freimütig, dass er sich in einem
       Frankfurter Kinderladen von einem fünfjährigen Mädchen am geöffneten
       Hosenlatz streicheln ließ.
       
       Bereits vor zwölf Jahren hielt ihm Alice Schwarzer dieses Zitat vor. Wenn
       jetzt der baden-württembergische CDU-Fraktionschef Peter Hauk diese Szene
       noch einmal mit hoch aufbrausender Empörung erwähnt, so hat das eher mit
       Wahlkampf und weniger mit dem Verhalten Cohn-Bendits zu tun – offenbar
       hatte dieser den Vorgang einfach frei erfunden.
       
       Cohn-Bendit glaubte, sich ausgerechnet mit angeblichen pädophilen
       Handlungen brüsten zu müssen. Damals gab es einen Liberalisierungseifer
       gegen die „spießige Sexualfeindlichkeit“, der sogar dazu bereit war, die
       Grenze zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität zu verwischen.
       
       Hinzu kam ein Provokationshabitus, der sich verselbständigt hatte, wie etwa
       der TV-Auftritt Cohn-Bendits in einer französischen TV-Sendung von 1982
       bewies, in dem er seine Gesprächspartner mit Lobeshymen auf die kindliche
       Sexualität aus der Fassung zu bringen versuchte. Ebendiese linksalternative
       Befreiungslogik und pure Provokationslust verschafften den Päderasten
       damals eine Bühne.
       
       Die Geschichte beginnt harmlos, nämlich mit der öffentlichen Anerkennung
       frühkindlicher Sexualität; zweifellos eine wichtige Leistung der
       antiautoritären Kinderladenpädagogik. Nackt herumlaufen, Sexualspiele mit
       dem eigenen und dem Körper anderer Kinder waren damals noch tabuisiert.
       
       Im tendenziell selbst regulierten Kollektiv konnten die Kinder nun ihre
       „sexuellen bzw. genitalen Bedürfnisse“ ausleben. Ehrfürchtig bewunderten
       die Betreuer die unbefangenen Kinder. Ihre Sexualität wurde überhöht und
       zum Hoffnungszeichen für eine befreite Gesellschaft glorifiziert.
       
       Bereits früh kam es auch zu pädophilen Handlungen, die – anders als in der
       Odenwaldschule oder in den katholischen Kirchen – in aller Öffentlichkeit
       besprochen wurden. Jedes Thema konnte, ja musste damals „ausdiskutiert“
       werden.
       
       Nicht zuletzt wurde dabei über das Private geredet und geschrieben – als
       Teil der politischen Selbstverständigung. Getragen von diesem normativen
       Erwartungsüberschuss wurde auch die Pädophilie zum Diskussionsthema. In der
       Selbstdarstellung der Berliner Kommune II etwa liest man, die dreijährige
       Grischa soll den Körper eines Mannes gestreichelt haben, der daraufhin eine
       Erektion bekam.
       
       ## Sexuelle Neugier
       
       Monika Seifert, Frankfurter Kinderladenaktivistin, schrieb dagegen 1970,
       dass „bisher kein Fall von versuchter, direkter, zielgerichteter sexueller
       Aktivität eines Kindes mit einem Erwachsenen beobachtet wurde“. Bezeichnend
       ist ihre Erklärung: Ursächlich dafür seien die „Hemmungen und
       Unsicherheiten der Erwachsenen“.
       
       Es scheint, als habe sie sich dafür entschuldigen wollen, dass die Kinder
       ihre „sexuelle Neugier an diesem Punkt unterdrücken“. Der befreiten
       Sexualität der Kinder stand immer der selbstzerknirschte Verweis auf die
       Verklemmungen der Erwachsenen gegenüber.
       
       Bezeichnend für die damaligen Einstellungen zur Pädophilie war die
       Solidaritätswelle für Peter Schult, einen freien Mitarbeiter des
       alternativen Münchner Stadtmagazins Blatt. Schult wurde mehrfach wegen
       Päderastie angeklagt und rechtskräftig verurteilt.
       
       ## Tabubrüche
       
       Der Frankfurter Pflasterstrand befand, dass die Linke sich stärker mit dem
       „Tabu“ der „abgewehrten und verleugneten Sexualität in der
       Erwachsenen-Kind-Beziehung“ beschäftigen solle: „Auch hat sich gezeigt, daß
       man nicht ohne weiteres davon ausgehen kann, daß die sexuellen Bedürfnisse
       von Erwachsenen und Kindern soweit auseinanderfallen, daß man hier nur und
       ausschließlich sexuelle Ausbeutungsverhältnisse unterstellen müsste.“
       
       Dies ist nur eine von vielen Textstellen, in denen die Unterscheidung von
       Erwachsenen- und Kindersexualität zielgerichtet eingeebnet wurde.
       
       Als die Frankfurter Spontis 1977 ein Teach-in zur Pädophilie initiierten,
       kamen rund 800 Teilnehmer und stritten heftig über Grenzen und Sinn
       sexueller Libertinage. Der anwesende Schult warf der Frauenbewegung vor,
       sie würde Pädophilie pathologisieren und Pädosexualität mit Vergewaltigung
       verwechseln.
       
       Aktivisten der Pädophilenbewegung wie Olaf Stüben lästerten 1979 in der taz
       über die „moralinsaueren Typen“, die eine Grenze zwischen erwachsener und
       kindlicher Sexualität ziehen wollten, die doch nur eine „Erfindung des
       Bürgertums im Frühkapitalismus“ sei. Widerstand gegen solche Positionen gab
       es von feministischer Seite.
       
       ## Kritik von Alice Schwarzer
       
       Alice Schwarzer schrieb 1980 in der Emma: „Ich halte Pädophile nicht für
       eine zu befreiende verkannte Minderheit, sondern für das willkommene
       Sprachrohr einer Männergesellschaft, die es schon immer gut verstanden hat,
       ungleiche Beziehungen als ’gleich‘ zu propagieren.“
       
       Ihre eigenen Neigungen thematisierten die Pädophilen nur selten.
       Stattdessen hieß es oft, man gehe nur auf die Wünsche der Kinder ein. So
       schrieb um die Jahreswende 1977/78 ein Pflasterstrand-Autor: „Wir tun
       Kindern ja Gewalt an, wenn wir auf ihre sexuellen Bedürfnisse nicht
       eingehen.“
       
       Auch in betrifft Beziehung, der Zeitschrift der linksgerichteten Deutschen
       Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie e. V., war immer wieder vom
       angeblichen Verlangen der Kinder die Rede. Es sei ihr Menschenrecht, auch
       mit Erwachsenen sexuelle Handlungen begehen zu dürfen: „Wenn sich nun der
       Erwachsene zärtlichen, erotischen und schließlich auch sexuellen Wünschen
       des Kindes entzieht: IST DAS KEINE GEWALT?“
       
       ## Distanzierungen von der Pädophilen
       
       Gegen Mitte der achtziger Jahre änderten sich diese Verhältnisse
       allmählich. Jene Teile der Schwulenbewegung, die sich in den 70er Jahren
       mit Schult aufgrund der gemeinsamen Forderung nach einer Absenkung des
       Schutzalters solidarisiert hatten, distanzierten sich nun von den
       Pädophilen. Das Befreiungstheorem hatte an Zugkraft verloren – wohl auch
       unter dem Einfluss der Aids-Diskussionen.
       
       In den Grünen hatte die Bundesarbeitgemeinschaft „Schwule, Päderasten und
       Transsexuelle“ (BAG SchwuP) den Pädophilen zunächst ein Forum für ihre
       Forderungen nach Straffreiheit gegeben. Auf dem Programmparteitag der
       nordrhein-westfälischen Grünen vom 10. März 1985 wurde die „gewaltfreie
       Sexualität“ zwischen Erwachsenen und Kindern sogar in das Wahlprogramm
       aufgenommen, was den Grünen anschließend massive öffentliche Proteste
       einbrachte.
       
       Nur eine Woche später, am 16. März, entschied der Landeshauptausschuss, den
       Programmteil „Sexualität und Herrschaft“ auszusetzen. Auf einem
       Sonderparteitag Ende März sprach sich die Partei nach turbulenten
       Diskussionen für eine Schutzaltersgrenze von 14 Jahren aus. Nach solcherlei
       Querelen wurde der Einfluss der BAG SchwuP zurückgedrängt, 1987 löste sie
       sich auf. Nicht zuletzt aufgrund der Kritik von Feministinnen und grünen
       Kreisverbänden gehörten die Pädophilen-Forderungen bald der Vergangenheit
       an.
       
       ## Teil des Milieus
       
       Drei Gründe trugen vornehmlich dazu bei, dass sich die Pädophilen als Teil
       des linksalternativen Milieus ausgeben konnten. Erstens bezeichneten sie
       sich als Opfer staatlicher Repression, rechtlicher Verbote und bürgerlicher
       Normierungen. „Repression“ war aber ein Lieblingsterminus des
       linksalternativen Milieus.
       
       Als Gegen- und Kampfbegriff verlieh er den Freiheits- und
       Selbstbestimmungsbedürfnissen mehr Legitimation. Zweitens konnten sich die
       Pädophilen als Teil der allgemeinen Befreiungs- und Liberalisierungstendenz
       ausgeben, galt doch die Lockerung und Auflösung bürgerlicher
       Sexualitätsnormen als Königsweg zur Überwindung der repressiven
       Gesellschaft.
       
       Drittens war der Gestus des Tabubruchs, der Provokation einer allzu
       wohlanständigen Gesellschaft, fast zum Selbstwert geworden. Repression,
       freie Sexualität und Tabubruch waren gleich drei zentrale Dimensionen des
       Selbstverständnisses, auf die man in Teilen des linksalternativen Milieus
       nahezu reflexhaft reagierte.
       
       12 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sven Reichardt
       
       ## TAGS
       
   DIR Missbrauch
   DIR Daniel Cohn-Bendit
   DIR Sexualität
   DIR Pädophilie
   DIR Bündnis 90/Die Grünen
   DIR Alice Schwarzer
   DIR Daniel Cohn-Bendit
   DIR Pädophilie
   DIR 80er Jahre
   DIR FDP
   DIR Marokko
   DIR Pädagogik
   DIR Pädophilie
   DIR Aufklärung
   DIR Pädophilie
   DIR taz.gazete
   DIR Daniel Cohn-Bendit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Pädophilie-Skandal bei den Grünen: Im Nebel der Vergangenheit
       
       Die Debatte über Sex mit Kindern habe vor 30 Jahren kaum eine Rolle in den
       Programmdiskussionen gespielt, sagen ehemals führende Grüne
       
   DIR Kommentar Grüne und Pädophilie: Die Kosten der Selbstaufklärung
       
       Die sachliche und historische Darlegung der grünen Vergangenheit mag
       teilweise instrumentalisiert werden – ist aber der einzig richtige Weg.
       
   DIR Pädophiliedebatte in den 1980ern: Es geht immer um die Macht
       
       Schon 1980 beklagte Günter Amendt diese „Art von Sexualdarwinismus“ – die
       Durchsetzung des Rechts der Stärkeren, der Erwachsenen.
       
   DIR Geschichtsaufarbeitung bei den Grünen: Für Pädophilie und dagegen
       
       Laut dem Politologen Franz Walter stützten Ur-Grüne Pädophile und kehrten
       sich bald ab. Ein Forschungsprojekt zum Thema soll 2014 abgeschlossen sein.
       
   DIR Vorwürfe in Pädophilie-Debatte: FDP-Politikerin zieht sich zurück
       
       Erst wurde ihr Artikel über Pädophilie aus den 80er Jahren bekannt. Nun hat
       die FDP-Kandidatin Dagmar Döring ihre Bundestagskandidatur zurückgezogen.
       
   DIR Marokkos König knickt ein: Pädophilen-Begnadigung widerrufen
       
       Nach gewaltsamen Protesten in Marokko hat Mohammed VI. die Amnestie eines
       Kinderschänders zurückgenommen. Aber der Spanier ist längst geflohen.
       
   DIR Pädagoge über Grundschulen: Rent a Lehrer (männlich)
       
       Das Lehramtsstudium für Grundschulen ist unattraktiv für Männer. Mehrere
       Projekte an Universitäten bemühen sich, das zu ändern. Christoph Fantini
       macht in Bremen mit.
       
   DIR Claudia Roth zur Pädophilie-Debatte: Grüne kündigen Entschuldigung an
       
       Die Grünen werden sich für ihre Nähe zu pädophilen Gruppen in der
       Vergangenheit entschuldigen. Es seien eindeutig und objektiv Fehler
       passiert.
       
   DIR Kommentar Grüne und Pädophilie: Aufklärer wider Willen
       
       Beim Thema Pädophilie klagen Grüne durchaus mit Recht, hier werde ein altes
       Thema neu instrumentalisiert. Deshalb hätten sie längst für Transparenz
       sorgen sollen.
       
   DIR Pädophilen-Einfluss soll erforscht werden: Grüne lassen die Hosen runter
       
       Haben die Grünen in ihren Anfangsjahren zu sehr mit pädophilen Gruppen
       zusammengearbeitet? Das soll nun ein externes Institut untersuchen.
       
   DIR Pädophilendebatte bei den Grünen: Man wollte offen für alle sein
       
       Die Grünen lassen jetzt ihre Geschichte durchkämmen. Es geht um pädophile
       Verstrickungen von gestern und den Wahlkampf von heute.
       
   DIR Cohn-Bendit und Kindesmissbrauch: Der Tabubrecher
       
       Daniel Cohn-Bendit bekommt den Theodor-Heuß-Preis. Der Laudator hat seine
       Teilnahme abgesagt. Dem Grünen-Politiker wird Kindesmissbrauch vorgeworfen.