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       # taz.de -- Ewiger Abi-Stress: Wie viel Turbo darf‘s denn sein?
       
       > Der Norden streitet über die Schulzeit: In Kiel und Hamburg wollen Eltern
       > das Turbo-Abi bremsen, in Niedersachsen soll's ein runder Tisch die Nöte
       > lindern.
       
   IMG Bild: Um vieles rund um's Abi muss man sich sorgen.
       
       Es bestimmt schon seit Jahren den Alltag tausender Kinder und Familien, und
       doch wird derzeit kein schulpolitisches Thema so heißt diskutiert wie
       Turbo-Abitur. In Hamburg zittert der SPD-Senat vor einer
       Eltern-Volksiniative „[1][G9-Jetzt-HH]“, die die Schulzeitverkürzung an
       Gymnasien zurückdrehen will. Hat sie Erfolg, wird es ausgerechnet zur
       nächsten Wahl eine Volksabstimmung geben. Auch in Schleswig-Holstein
       sammlen Eltern [2][Unterschriften] für das „Y-Modell“, so heißt eine
       Schule, die beides anbietet, den achtjährigen (G 8) und den neunjährigen
       Weg zum Abitur (G 9). In beiden Ländern bläst den Eltern politisch starker
       Wind entgegen.
       
       Ihre Forderung nach mehr Lernzeit für ihre Gymnasiumskinder, so der
       Vorwurf, schadet dem Konzept des Zwei-Säulen-Modells. Denn an den
       Gemeinschaftsschulen beziehunsgweise Stadtteilschulen, die anders als
       Gymnasien für alle Kinder offen sind, wird der neunjährige Weg zum Abitur
       weiter angeboten. So ist auch Schleswig-Holsteins Bildungsministerin
       Waltraut Wende (parteilos) grundsätzlich für eine [3][klare Trennung]: G 8
       am Gymnasium, G 9 neun in den Gemeinschaftsschulen. Dass damit eine
       Stärkung der Gemeinschaftsschulen einhergeht, ist gewollt. Daran hatte ihr
       Vorgänger, FDP-Bildungsminister Ekkehard Klug, weniger gedacht. Er hatte
       gerade erst erlaubt, dass Gymnasien sich für klassische G 9 entscheiden
       konnten und sogar beide Varianten unter einem Dach erlaubt und damit das
       „Y-Modell“ kreiert.
       
       Doch Wendes Entwurf für eine neues Schulgesetz, das im Juni in den landtag
       soll, rief sofort die G9-Verfechter auf den Plan. Gegen den
       „Schulkanibalismus“ wettert deren lautstärkste Vertreterin, Astrid
       Schulz-Evers vom „Schleswig-Holsteinische Elternverein“, die im Rahmen der
       „Elterninitiative G9-jetzt!“ eine Volksinitiative gegen das Turbo-Abi
       gestartet hat. Inzwischen ruderte die Ministerin etwas zurück und hat
       zugesagt, dass es für die „Y-Gymnasien“, an denen G8 und G9 gleichzeitig
       angeboten werden, Bestandsschutz gibt.
       
       Ähnlich sind die Fronten in Hamburg. Dort warnte SPD-Schulsenator Ties
       Rabe, der „Schulfrieden“ sei in Gefahr, nachdem die Mutter und Journalistin
       Mareile Kirsch am 15. Mai mit einer Elterntruppe die Volksinitaive
       „G9-Jetzt-HH“ startete. 6000 Unterschriften für eine Petition hatte sie da
       schon zusammen. Die für die erste Hürde im dreistufigen
       Volksgesetzgebungsverfahren nötigen 10.000 Unterschriften gelten als
       sicher. Die Initiative wird ernst genommen, weil es sich um Kreise handelt,
       die bereit 2010 die Primarschule stoppten. Um so massiver die Warnungen von
       Politik und Verbänden. Wer jetzt G 9 wolle, riskiere „den Zusammenbruch
       einer endlich gefundenen verlässlichen Schulstruktur“, warnte jetzt die
       Vereinigung der Gymnasialschulleiter, nachdem die Grüne Schulpolitikerin
       Stefanie von Berg laut darüber nachgedacht hatte, in jedem Bezirk eine
       solche Schule zu erlauben. „Ich habe das Gefühl, ich bin im Krieg“, sagt
       Mareile Kirsch.
       
       Anders verläuft die Debatte in Niedersachsen, wo die abgewählte
       CDU-Regierung den Fehler beging, auch den Gesamtschulen das G 8
       aufzuzwingen, und damit breiten Anti-Turbo-Abi-Widerstand entfachte. Im
       Wahlkampf hatten SPD und Grüne einmütig versprochen, dies zu stoppen. Eine
       entsprechende Gesetzinitiative legten sie gleich nach Regierungsantritt
       vor.
       
       Bei den Gymnasien lässt man sich mehr Zeit: Für diesen Montag lädt
       Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD) Schüler-, Lehrer- und
       Elternverbände zu einem Dialog zur Zukunft der Gymnasien ein. Ob die
       Gymnasien zum G 9 zurückkehren oder ob es beim G 8 bleibt, soll dann
       diskutiert werden.
       
       „Ergebnisoffen“, wie eine Sprecherin betont. Niedersachsens neue
       Kultusministerin wolle den Weg zum Abitur am Gymnasium stressfreier
       gestalten, zur Frage aber, ob dieser Weg nun zwölf oder 13 Jahre dauern
       soll, sei sie „nicht festgelegt“. Noch im Wahlkampf hatte Heiligenstadt
       sich für ein System mit G 9 an Gesamtschulen und G 8 am Gymnasium
       ausgesprochen, so wie die SPD-regierten Nachbarländer es praktizieren.
       
       Die Grünen dagegen hatten stets gefordert, den Gymnasien selbst die Wahl
       zwischen G 8 und G 9 zu überlassen. Im Koalitionsvertrag einigte man sich
       dann darauf, die Frage „im Dialog mit den Beteiligten“ zu erörtern.
       
       Beim Dialogauftakt am Montag will Heiligenstadt zunächst Argumente
       „aufnehmen“, im Anschluss sollen sie Fachforen weiter erörtern. Eine
       Prognose, wann eine Entscheidung über das G 8 fällt, nennt ihr Ministerium
       nicht. Aber es gilt als denkbar, dass das Turbo-Abi fällt.
       
       Die Positionen bei den Beteiligten sind so weit nicht weit auseinander. Bei
       einigen hat sich auch die Stimmung gewandelt. So fordert der eher
       konservative Philologenverband [4][das G 9 zurück] - seit dem rot-grünen
       Wahlsieg. Davor hatte er die Schulreformen von Schwarz-Gelb stets
       mitgetragen, inklusive Turboabi. Der Landesschülerrat dagegen spricht sich
       für G 9 an Gesamtschulen und G 8 an Gymnasien aus - bei „verbesserten
       Rahmenbedingungen“.
       
       Niedersachsens Schulleiterverband mahnt unterdessen einen „einheitlichen
       Weg zum Abitur am Gymnasium“ an. Dass der wieder nach G 9 erfolgt, hält die
       Vorsitzende Brigitte Naber für „vorstellbar“. Zugleich hätten sich viele
       Schulen auf das G 8 eingestellt und hielten es mit geänderten Lehrplänen
       „für machbar“. Und beim Landeselternrat betont man, „offen“ ohne feste
       Forderungen in den Dialog zu gehen.
       
       Die Lehrergewerkschaft GEW warnt vor einem Mischmodel G 8- und G
       9-Gymnasien, das würde zu einer Hierarchsierung führen. Statt dessen tritt
       die Gewerkschaft konsequent für die [5][Abschaffung des Turbo-Abis] ein.
       „Wir können nicht sagen, G 9 ist besser, deswegen kriegen es nur die
       Gesamtschulen und die Gymnasien müssen leiden“, sagt der Landesvorsitzende
       Eberhard Brandt.
       
       Die Gesamtschulen im Land seien beliebt bei den Eltern wegen des
       pädagogischen Profils. „Die brauchen diesen künstlichen Vorteil nicht“.
       
       7 Jun 2013
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.g9-jetzt-hh.de/
   DIR [2] http://www.g9jetzt.de/
   DIR [3] http://www.schleswig-holstein.de/Bildung/DE/Schwerpunkte/Schuljahr12_13/Schuljahr12_13_node.html#doc1108806bodyText5
   DIR [4] http://phvn.de/index.php/pressemitteilungen/552-15022013-philologenverband-fuer-rueckkehr-zum-neunjaehrigen-gymnasium
   DIR [5] http://www.gew-nds.de/index.php/presse-downloads/pressemitteilungen/441-gew-begruesst-schnelle-aenderung-des-schulgesetzes-schluss-mit-dem-turbo-abi-und-wieder-4-zuege-an-gesamtschulen?highlight=YToxOntpOjA7czo2OiJhYml0dXIiO30=
       
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