URI: 
       # taz.de -- Carsten S. im NSU-Prozess: „Die drei armen Verfolgten“
       
       > Carsten S. war Funktionär der rechten Szene. Er sagt, er wäre damals der
       > „Kleine“ gewesen, der ausgeführt habe, was ihm von den Kameraden
       > aufgetragen worden sei.
       
   IMG Bild: Packte aus, nur nicht sein Gesicht: Carsten S. im Gericht (Archivbild).
       
       MÜNCHEN taz | Bis 15:44 Uhr dauert am Dienstag wieder das juristische
       Gerangel. Doch dann kommt es doch noch dazu, dass mit Carsten S. der erste
       Angeklagte im NSU-Prozess mit seiner Aussage beginnt.
       
       An den bisherigen Verhandlungstagen saß Carsten S. ganz hinten in der Ecke.
       Doch für seine Vernehmung hat ihn das Gericht nun eine Reihe nach vorne
       gesetzt, direkt hinter die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und nur zwei
       Stühle von Ralf Wohlleben entfernt, den der schon vor Jahren aus der Szene
       ausgestiegene und offen schwul lebende Carsten S. mit seinen Aussagen
       belastet.
       
       Ihren Blicken weicht Carsten S. aus. Er schaut durchgängig auf den
       Vorsitzenden Richter Manfred Götzl. Der lässt den Angeklagten erst
       ausführlich seinen Lebenslauf erzählen, um dann, als es bereits Abend und
       die Luft im Saal stickig wird, zu dem zu kommen, weshalb der 33-Jährige
       hier sitzt.
       
       Er ist angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen, weil er den
       NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos vor 13 Jahren eine
       Ceska-Pistole in den Untergrund gebracht hat – mutmaßlich jene Waffe, mit
       der die NSU-Terroristen neun ihrer zehn Morde begingen. Nach seiner
       Darstellung war er zu dem Zeitpunkt der „Kleine“, der das ausgeführt habe
       was ihm von den Kameraden aufgetragen worden sei.
       
       ## Telefonkontakt
       
       Der Neonazi Ralf Wohlleben habe ihn nach dem Untertauchen von Uwe Mundlos,
       Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe 1998 gefragt, ob er den dreien nicht helfen
       wolle. Und das habe er dann getan. Aus damaliger Sicht eines Rechtsextremen
       habe er gedacht: „Die drei armen Verfolgten.“
       
       Eine Zeit lang habe er den Telefonkontakt mit den Untergetauchten gehalten.
       Eines Tages hätten dann die beiden Uwes angerufen und nach einer Waffe
       verlangt. Wohlleben habe ihm gesagt, wo er eine bekommen könne: im
       „Madley“, einem Szeneladen in Jena. Tatsächlich bekam er dort eine
       Ceska-Pistole mit Schalldämpfer. Bei Wohlleben hätten sie die Waffe
       inspiziert. Dann habe er sie „zu Hause im Kinderzimmer unterm Bett“
       gebunkert – um sie vermutlich im Frühjahr 2000 mit dem Zug nach Chemnitz zu
       bringen und sie Mundlos und Böhnhardt in einem Abbruchhaus zu übergeben.
       
       Der Vorsitzende Richter Götzl ließ Carsten S. zunächst in aller Ruhe
       erzählen – doch an dieser Stelle hakte er beharrlich ein.
       
       Götzl: „Haben Sie etwas erfahren über den Zweck?“ 
       
       Carsten S.: „Nein.“
       
       „Haben Sie nachgefragt?“ 
       
       „Nein.“
       
       „Haben Sie sich Gedanken gemacht?“ 
       
       (nach langer Pause) „Ich hatte damals ein positives Gefühl, dass die drei
       in Ordnung waren.“
       
       An dieser Stelle wird die Vernehmung am Mittwochmorgen fortgesetzt werden.
       
       Ausführlicher als über den Tatvorwurf hat Carsten S. am Dienstag bereits
       über seine Biographie gesprochen. Es ist die eines jungen Mannes, der
       während seiner Jugend sein Schwulsein verdrängte und unter einem mitunter
       strengen Vater litt. Mit 16 kam er in Kontakt mit der rechtsextremen Szene
       in Jena. Im Frühjahr 1997 seien sie auf eine große Neonazi-Demo in München
       gefahren: „Das hat mir sehr imponiert.“
       
       Er wurde selber zum Funktionär in der rechtsextremen Szene. 1999 sei er
       Stellvertreter des nun mitangeklagten Ralf Wohlleben an der Spitze des
       NPD-Kreisverbands Jena geworden. Im Jahr 2000 habe er zudem die
       Jugendorganisation der Partei in Jena geleitet, die JN, und sei für wenige
       Monate Vize-Bundesgeschäftsführer der Organisation gewesen.
       
       Im selben Jahr habe er dann aber sein Coming-Out gehabt und sei zum
       „schwulen Aussteiger“ geworden. Seit seinem 13 Lebensjahr habe er seine
       Homosexualität verdrängt, doch irgendwann sei das nicht mehr gegangen. Er
       könne sich noch daran erinnern, dass er im Jahr 2000 in der Wohnung von
       Wohlleben gesessen habe und dieser einen blöden Spruch übers Schwulsein
       gemacht habe. Da habe er gewusst: „Das sind nicht deine Leute.“
       
       ## „Schwuler Aussteiger“
       
       Wenige Monate nach der Waffenlieferung an den NSU stieg er aus dem
       Rechtsextremismus aus und bekannte sich offen zu seiner Homosexualität.
       2003 zog er nach Nordrhein-Westfalen, wo er Sozialpädagogik studierte und
       schließlich für die Aidshilfe arbeitete.
       
       Knapp drei Monate nach Auffliegen des NSU nahmen ihn am 1. Februar 2012
       Spezialkräfte der GSG-9 in seiner Düsseldorfer Wohnung fest. Bis Mai 2012
       saß er in Untersuchungshaft, seitdem ist er im Zeugenschutzprogramm des
       BKA.
       
       Carsten S. war noch unter 21, als er dem NSU die Waffe brachte, rechtlich
       also ein Heranwachsender. Zwei Gerichtsgutachter halten nach derzeitigem
       Stand eine Verurteilung nach Jugendstrafrecht für angemessen. Auch seine
       Aussage könnte ihm einen Strafrabatt einbringen.
       
       4 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolf Schmidt
       
       ## TAGS
       
   DIR Rechtsextremismus
   DIR Schwerpunkt Neonazis
   DIR NSU-Prozess
   DIR Carsten S.
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Carsten S.
   DIR Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
   DIR Carsten S.
   DIR Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
   DIR NSU-Prozess
   DIR Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
   DIR NSU-Prozess
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
   DIR Schwerpunkt Rechter Terror
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Carsten S. im NSU-Prozess: Gelacht über „Bratwurst statt Döner“
       
       Die Befragung des Angeklagten Carsten S. gestaltet sich zäh. S. zeichnet
       von sich selbst das Bild eines unpolitischen Mitläufers.
       
   DIR Beate Zschäpe im NSU-Prozess: Brisanter rechter Brieffreund
       
       In einem Brief an einen Dortmunder Neonazi schildert Zschäpe ihren
       Haftalltag und verwendet Nazicodes. Die Nebenkläger wollen den Brief jetzt
       ins Verfahren einbringen.
       
   DIR Helfer und Mitwisser des NSU: Prahlende Rechtsterroristen
       
       Die Ermittler dachten, der NSU habe keine Mitwisser gehabt. Nach
       überraschenden Aussagen eines Angeklagten im NSU-Prozess ist das nicht mehr
       haltbar.
       
   DIR Carsten S. spricht im NSU-Prozess: Sprengstoff in der Taschenlampe
       
       Überraschend berichtet Carsten S. über neue Details. Es könnte noch ein
       weiterer Sprengstoffanschlag auf das Konto des NSU gehen.
       
   DIR Mitangeklagter im NSU-Prozess sagt aus: Frühe Andeutungen von Anschlägen
       
       Unter Tränen gibt Carsten S. zu, von Mundlos und Böhnhardt schon zeitig
       Hinweise auf Mordpläne erhalten zu haben. Seine Aussage könnte Beate
       Zschäpe entlasten.
       
   DIR Holger G. spricht im NSU-Prozess: Ein guter Freund
       
       Holger G., der das NSU-Trio unterstützte, ist einer der wichtigsten
       Belastungszeugen. Die Pläne der mutmaßlichen Terroristen, seien ihm unklar
       gewesen.
       
   DIR NSU-Helfer Carsten S.: Kein Vergessen
       
       Er ist der Mann, der dem NSU die Mordwaffe geliefert hat. Nach seinem
       Coming-Out suchte er ein neues Leben. Viele Jahre später holt ihn die
       Vergangenheit ein.
       
   DIR NSU-Verfahren: Zäher erster Akt
       
       Der vierte Tag im NSU-Prozess ist vorbei. Und noch immer ist kein
       Angeklagter zu Wort gekommen. Stattdessen geht es um die Hackordnung. Jetzt
       sind erst einmal Pfingstferien.
       
   DIR Die Helfer der NSU: Nazi-Terror vor Gericht
       
       Die Bundesanwaltschaft klagt die einzige Überlebende des NSU wegen Mordes
       an. Doch auch die vier Helfer müssen sich verantworten.
       
   DIR Terrortruppe NSU: Von der Vergangenheit eingeholt
       
       Ausgestiegen aus der Naziszene, umgezogen, studiert und offen schwul:
       Carsten S. wollte nichts mehr mit den Rechten zu tun haben.