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       # taz.de -- Volksaufstand in der Türkei: „Die Leute haben die Schnauze voll“
       
       > Erst ging es um ein paar Bäume im Istanbuler Gezi-Park, dann um
       > Demokratie und die ganze Türkei. Das Protokoll einer Protestwoche.
       
   IMG Bild: Klare Botschaft an Erdogan
       
       ISTANBUL taz | Umgestürzte und verbrannte Busse und Autos, aufgetürmte
       Barrikaden, Abertausende Patronenhülsen von Gasgranaten und aus dem
       Pflaster gerissene Steine. Im Zentrum von Istanbul ist am Sonntagmorgen ein
       Trümmerfeld zu besichtigen. Einige hundert Demonstranten harren dennoch auf
       dem Taksim-Platz aus. Umweltschutzaktivisten beginnen, den Gezi-Park
       aufzuräumen und zu säubern. Es regnet.
       
       An den fünf Tagen zuvor hatte die Sonne geschienen. Und die Millionenstadt
       am Bosporus war im Ausnahmezustand. Tausende Polizisten schlugen auf
       aufgebrachte Bürger ein. Begonnen hatte alles mit einer kleinen
       Demonstration für den Erhalt des Gezi-Parks. Die letzte Grünfläche im
       Zentrum der Stadt, die direkt an den Taksim-Platz angrenzt, soll einem
       Einkaufszentrum weichen.
       
       Doch innerhalb von Tagen entwickelten sich aus der Parole, „Lasst die Bäume
       leben“ unversehens landesweite Rücktrittsforderungen an die Adresse von
       Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.
       
       Ein Volksaufstand, der sich von Istanbul über Ankara, Izmir und Adana
       zuletzt auf die ganze Türkei ausgebreitet hat. Allein in Istanbul waren
       Samstagabend wohl mindestens eine Million Menschen auf den Beinen, um
       zunächst ihre Wut und später ihren Triumph lauthals in die Nacht zu
       schreien.
       
       Während am Taksim-Platz schon gefeiert wurde, ballerte in Ankara die
       Polizei noch ihre letzten Vorräte an Gasgranaten auf Demonstranten ab, die
       sich anschickten, den Sitz des Ministerpräsidenten zu stürmen. Erdogan
       musste sogar das ihm verhasste Militär um Hilfe für den Schutz der
       Regierungsgebäude bitten, die Polizei allein schaffte es nicht mehr.
       
       Die Konfrontationspolitik von Ministerpräsident Erdogan war am Ende, die
       Polizei erhielt den Befehl zum Rückzug und die Menge feierte überall im
       Land ihren Sieg. Wie konnte das passieren? Andrew Finkel, britischer
       Journalist und Schriftsteller, der schon seit mehr als 30 Jahren in der
       Türkei lebt und das Auf und Ab der türkischen Politik schon oft mitgemacht
       hat, brachte es Samstagnacht in einem Kommentar für den Sender Al-Dschasira
       auf den kürzest möglichen Punkt: „Die Leute hatten von der Arroganz
       Erdogans einfach die Schnauze voll.“
       
       ## Montag: Baumfreunde
       
       Dabei hatte alles ganz harmlos begonnen. In der Nacht von Montag auf
       Dienstag erhielten die Mitglieder der Bürgerinitiative „Gegen den Umbau des
       Taksim-Platzes“ telefonisch die Botschaft, im Gezi-Park seien Bulldozer
       dabei, die ersten Bäume umzureißen. Innerhalb einer Stunde versammelten
       sich 30 bis 40 Leute, um dagegen zu protestieren.
       
       Zum Held des Beginns wurde der Parlamentsabgeordnete der kurdischen BDP,
       Sirri Süreyya Önder. Der hat seinen Wahlkreis am Taksim-Platz und stellte
       sich entschlossen gegen die Bulldozer. „Wo ist ihre rechtliche Erlaubnis,
       die Bäume abzureißen?“, schrie er die Bauarbeiter an, die daraufhin erst
       einmal ihre Arbeit einstellten.
       
       Doch die herbeigerufene Polizei wollte sich auf keine Diskussionen
       einlassen. Mit einem ersten Tränengaseinsatz räumte sie den Park, zog sich
       dann aber wieder zurück. Im Laufe des Dienstags versammelten sich daraufhin
       immer mehr Leute im Park, die Ersten brachten ihre Zelte mit.
       
       ## Mittwoch: Volksfest
       
       Die Stimmung war prächtig, der Sommer hatte begonnen, die Besetzung des
       Parks versprach neben dem guten Zweck auch ein Happening zu werden. Am
       Mittwoch herrschte echte Volksfeststimmung. Immer mehr Leute kamen, die
       BesetzerInnen hatten eine Sprechergruppe gebildet, überall wurden Plakate
       gemalt, Musik gemacht und Erklärungen abgegeben.
       
       ## Donnerstag: Aufschrei
       
       Die gute Stimmung dauerte bis in den Morgen, dann trat erstmals im großen
       Stil die Staatsmacht auf den Plan. Hunderte Polizisten stürmten den Park,
       vertrieben die Besetzer, warfen die Zelte samt Inhalt auf einen großen
       Haufen und zündeten sie an. Die Antwort war ein Aufschrei in den sozialen
       Medien im Internet und erste Aufmerksamkeit auch bei den großen
       Fernsehanstalten, allen voran dem Nachrichtensender NTV.
       
       Ayse, eine arbeitslose Journalistin, die unweit des Parks lebt, hatte
       bereits am Abend zuvor prophezeit: „Je mehr die Polizei hier reinschlägt,
       umso mehr Leute werden wir am nächsten Tag sein.“ Tatsächlich saßen
       Donnerstagmittag schon fast 2.000 Leute im Park. Sie machten ihrem Ärger
       über die Polizei, aber auch über den gesamten Bauwahn der Regierung Erdogan
       Luft.
       
       Erdogan hatte gerade am Tag zuvor 30 Kilometer nördlich vom Taksim-Platz,
       da, wo der Bosporus ins Schwarze Meer fließt, feierliche den Grundstein für
       den Bau einer dritten Brücke über den Bosporus gelegt. Die
       Autobahnanbindung für diese Brücke wird mitten durch das letzte große
       intakte Waldgebiet in der Nähe der Stadt führen und dort irreparable
       Schäden anrichten.
       
       Vor knapp 20 Jahren wollte die damalige Regierung schon einmal eine Brücke
       im Norden der Stadt. Da war Erdogan noch Bürgermeister von Istanbul und der
       Meinung, das sei „Mord an der Stadt“. „Hoffentlich wird die Regierung
       abgewählt, bevor sie diesen Irrweg weitergehen kann“, sagte er damals.
       
       Heute preist Erdogan die Brücke als infrastrukturelle Großtat und tut seine
       Kritiker als ideologisch irregeleitete Dummschwätzer ab. An die Adresse der
       Parkbesetzer ließ er ausrichten, das geplante Einkaufszentrum werde in
       jedem Fall gebaut.
       
       ## Freitag: Goethe und Prügel
       
       In der Nacht zu Freitag war der Gezi-Park voll. Ein bekannter Schauspieler
       las aus Goethes „Leiden des jungen Werther“, alles war friedlich. Um fünf
       Uhr früh brach dann ein Inferno über die zumeist schlafenden Parkbesetzer
       herein. Hundertschaften der gefürchteten Antiaufstandseinheiten der Polizei
       fielen mit Tränengas und Wasserwerfer über die Leute her, Flüchtende wurden
       hartnäckig verfolgt, verprügelt und festgenommen. Mehr als 200 Menschen
       waren verletzt. Es gab Platzwunden, ein junger Mann verlor sein Augenlicht
       und fünf Menschen landeten schwerverletzt auf den Intensivstationen der
       umliegenden Krankenhäuser.
       
       „Das“, meinte Ayse später, „war der Punkt, wo aus einer Parkbesetzung ein
       Aufstand wurde.“ In Cihangir, einem bürgerlichen Bezirk unterhalb des
       Taksim-Platzes, gingen plötzlich alle auf die Straße. Hausfrauen trommelten
       auf Kochtöpfen, ganze Familien machten sich auf zum nahe gelegenen
       Taksim-Platz, um ihrer Empörung Luft zu machen. Wieder verhielten sich die
       Leute völlig friedlich. Auf dem Taksim fand ein Sit-in statt. Tausende
       setzten sich in stummem Protest auf den Platz, umstellt von Polizei. Dann
       befahl ein Polizeioffizier: „Wischt sie alle weg!“
       
       Die Bilder, wie offensichtlich friedliche, dialogbereite Bürger von
       Wasserwerfen über den Platz gefegt wurden, war die Initialzündung für den
       landesweiten Protest. Statt die Leute einzuschüchtern, löste Erdogan einen
       Sturm aus, wie er ihn in seiner gesamten 11-jährigen Amtszeit noch nicht
       erlebt hatte.
       
       Tausende machten sich auf, um den Taksim-Platz für sich zu reklamieren, die
       Polizei schlug die Menge mit aller Härte zurück. Mitten in den Nacht von
       Freitag auf Samstag, als in Istanbul bereits nicht mehr nur am
       Taksim-Platz, sondern in vielen anderen Stadtteilen demonstriert wurde und
       überall in der Türkei Leute aus Solidarität mit den Menschen in Istanbul
       auf die Straßen gingen, erschien Tayyip Erdogan mit einer fast surrealen
       Ansprache an die Nation auf den Fernsehschirmen. In einer offenbar früher
       aufgezeichneten Ansprache lobte er seine Friedenspolitik mit der kurdischen
       PKK und verteidigte seine Syrienpolitik. Zu der auf den Straßen des Landes
       tobenden Revolte sagte er keinen Ton.
       
       ## Samstag: Marsch ins Zentrum
       
       Als im Morgengrauen des Samstags die Kämpfe um den Taksim-Platz immer noch
       andauerten, machten sich Tausende Istanbuler von der asiatischen Seite der
       Stadt zu Fuß über die eigentlich für Fußgänger gesperrte Bosporusbrücke auf
       den Marsch ins Zentrum. Die Eroberung des zentralen Platzes in Istanbul,
       dem Platz der Republik, wurde zum Fokus der Revolte. Völlig unorganisiert
       marschierten die Leute los, die Oppositionsparteien hängten sich lediglich
       an den spontanen Aufstand an, zu melden hatten sie nichts.
       
       Die Polizei zog alle ihre Kräfte im Zentrum zusammen. Mehrmals machte die
       Meldung die Runde, das Tränengas sei ausgegangen, jedes Mal rückte die
       Polizei mit neuen Gaseinsätzen vor. Sogar aus Hubschraubern wurden
       Gaskanister abgeworfen. „Istanbul erstickt seit 24 Stunden im Gas“, titelte
       die Zeitung Hürriyet.
       
       Im Laufe des Samstags wurden die Auseinandersetzungen immer erbitterter.
       Mittlerweile kämpften gut ausgerüstete Gruppen im Stile der „Schwarzen
       Blocks“, die in Deutschland oft für eine Eskalation gesorgt haben, an
       vorderster Front gegen die Polizei. Zwei junge Männer am Straßenrand
       brachten mit einem selbstgemalten Plakat die Absurdität der Situation auf
       den Punkt: „Thanks to make as feel like at home, Tayyip“, stand da. Als
       Unterschrift: zwei syrische Flüchtlinge.
       
       Um 17 Uhr am Samstag zog Staatspräsident Abdullah Gül dann die Notbremse.
       Er rief Ministerpräsident Tayyip Erdogan an und forderte Besonnenheit. Kurz
       darauf erhielt die Polizei den Befehl, sich zurückzuziehen. Eine Stunde
       später fand auf dem Taksim-Platz eine der größten Feiern in der Geschichte
       der türkischen Republik statt.
       
       ## Sonntag: Aufräumen
       
       Am Sonntagmittag haben Umweltschützer den Gezi-Park bereits wieder
       gesäubert und bereiten die erneute Besetzung des Parks vor. Es sieht
       friedlich aus. Die Polizei hält sich im Hintergrund.
       
       2 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
       ## TAGS
       
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