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       # taz.de -- SPD im Wahlkampf: Ran an den Osten
       
       > Auf seiner Länderreise buhlt Kanzlerkandidat Peer Steinbrück um die
       > Stimmen der Ostdeutschen. Wie kommt der Hanseat im Osten an?
       
   IMG Bild: Auftritt in Dresden: Peer Steinbrück tourt durch Ostdeutschland
       
       ROTTMERSLEBEN/MAGDEBURG taz | „Wer ist der Mann?“, fragt der Junge. „Na,
       sag mal“, stutzt ihn die Mutter zurecht, „du gehst doch zur Schule, lernt
       ihr da nichts? Das ist doch der Peer Steinbrück!“ Der etwa Zehnjährige
       macht nicht den Eindruck, als sage ihm der Name etwas. Aber klar ist,
       dieser bullige Typ im nachtblauen Anzug muss wichtig sein. Sonst wären
       nicht alle aus dem Dorf zum Feuerwehrhaus gekommen, um ihn zu begrüßen.
       
       Der SPD-Kanzlerkandidat ist heute im Mensch-zu-Mensch-Modus. Es ist
       Länderreise-Tag. Das heißt, er trifft auf die [1][Bürgerinnen] und Bürger,
       und abends stellt er sich in die nächstgrößere Stadthalle und redet
       „Klartext“. Heute macht er Station in Rottmersleben, Sachsen-Anhalt. Abends
       warten dann 400 Genossen in Magdeburg auf ihn. Seit Wochen geht das so.
       
       Und man kann sagen: Diese Tour war nach dem komplett [2][verstolperten
       Start des Kandidaten] eine der besseren Ideen aus Steinbrücks
       Wahlkampfteam. Auf Länderreise lernen die Leute ihn kennen und er die
       Leute. Hier, in Ostdeutschland, hat er in dieser Hinsicht einiges zu tun.
       Habituell, biografisch ohnehin, ist Steinbrück Wessi.
       
       Ein Hanseat im feinen Zwirn, der keinem die Hand gibt und dem das
       Genossen-Du nicht leicht über die Lippen kommt. Ein Bonner
       Ministerialbeamter, der die Leute mit intelligenten Drechselsätzen
       verschreckt, in die er wo immer möglich Fremdwörter einstreut. Volksnah
       geht wirklich anders.
       
       ## Spanferkel und Freibier
       
       Aber er will sie überzeugen. Er braucht die Stimmen aus dem Osten. Er
       braucht wirklich jede Stimme, die er kriegen kann, um am 22. September mit
       seiner SPD gegen die Kanzlerin anstinken zu können. Diese Blazer-Frau aus
       Templin in Brandenburg, die ihren Herausforderer kühl ignoriert, die
       Konflikte und Angriffe sphinxartig aussitzt. Und die aktuell trotzdem 60
       Prozent der Wähler gern noch einmal vier Jahre ins Kanzleramt schicken
       würden. Gegen so viel Popularität hilft nur die Ochsentour, also: Ran an
       die Ossis.
       
       In Rottmersleben schiebt sich die Gruppe der Dörfler nun hinüber zum
       Gemeindehaus. Eine Kaffeetafel ist vorbereitet, danach warten Spanferkel
       und Freibier. Es ist 16 Uhr, Steinbrück schaut müde. Morgens noch war er in
       Berlin beim Treffen mit dem chinesischen Ministerpräsidenten, vormittags
       dann Parteivorstand und mittags Präsentation drei neuer Kandidaten für sein
       Kompetenzteam. Und jetzt das Kontrastprogramm: Rottmersleben, ein Dorf kurz
       vor Helmstedt, gelegen in der Börde-Landschaft zwischen Rapsfeldern und
       Windrädern.
       
       Thema heute: der demografische Wandel. So nennt man höflich die
       Entvölkerung des Ostens. Sachsen-Anhalt, das derzeit von einer großen
       Koalition regiert wird, hat seit der Wende eine halbe Million Einwohner
       verloren.
       
       ## Bevölkerungsschwund
       
       Waltraud Wolff, die SPD-Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises
       Börde-Jerichower Land, nennt die Fakten. Nur noch 180.000 Einwohner hat ihr
       Landkreis, viele Alte, wenige Kinder. Trotzdem soll alles vorhanden sein:
       Arzt, Kita, Schulbus, Kultur. Für das hoch verschuldete Sachsen-Anhalt eine
       kaum zu stemmende Aufgabe. „Wenn tagsüber nur noch zwei Leute im Dorf sind
       und die anderen arbeiten“, flachst Wolff, „kann man eigentlich nur sagen:
       Kontrolliert abbrennen.“
       
       Steinbrück fragt nach. Wie lange hat die Kita auf? Fährt ein Schulbus? Wie
       hoch sind die Hektarpreise? Er hört zu, schaut auf seine leere Kaffeetasse.
       Lässt sich nicht vom Ortsbürgermeister drängen, der fürchtet, dass das
       Spanferkel kalt wird. „Lass mal, ich höre zu.“ Seine Frau, sagt Steinbrück
       dann, sei ja hier aus der Gegend. Aus Hohenberg-Krusemark bei Stendal. Nach
       der Wende habe ihre Familie Land rückübertragen bekommen und verpachtet.
       Ja, doch, „das hat der Pächter ganz toll gemacht“. Was ein Lob sein soll,
       wirkt schulmeisterlich. Hier in der Börde mit ihren fetten Böden verstehen
       die wirklich was von Landwirtschaft.
       
       Nun aber los zum Spanferkel, das seiner Größe nach zu urteilen eher ein
       Spanschwein zu sein scheint. Brav lässt Peer Steinbrück sich eine Schürze
       umbinden, mit Bratengabel und Messer schneidet er Portionen zurecht. Die
       Rottmerslebener bilden eine Schlange. Kameras klicken, hier entstehen
       gerade die wichtigen Bilder. Steinbrücks Pressesprecherin hebt vom Boden
       einen SPD-Luftballon auf.
       
       ## Besser: Parteifreund
       
       Auch Christel Gronenberg hat sich einen Teller geholt. Die 66-Jährige ist
       SPD-Mitglied. Schon ihr Großvater war Sozialdemokrat. Bevor er starb, sagte
       er: „Christel, wenn die Wiedervereinigung kommt, gehst du in die SPD, hörst
       du!“ Genau das tat sie. Bis heute kommt ihr die Anrede „Genosse“ nicht über
       die Lippen – „das Wort ist für mich immer noch DDR, mein Mann und ich sagen
       Parteifreund“.
       
       Wie kommt dieser Kandidat, der Mann mit dem hanseatischen Akzent und der
       schnarrenden Stimme, bei ihr an? „Er bemüht sich“, antwortet Gronenberg.
       Seit seinem Antritt als Kanzlerkandidat werde er von den Medien ja
       regelrecht verfolgt. Versteht Steinbrück die Ostdeutschen? Verstehen schon,
       sagt sie, „aber ob da so viel Herzblut ist, weiß man nicht. Merkel wirkt da
       eher mütterlich.“ Steinbrück sollte den Osten mehr loben, wünscht sie sich.
       Und der Linkspartei endlich die Themen abjagen.
       
       Der Kandidat verabschiedet sich jetzt, zwei Personenschützer begleiten ihn
       zum Wagen. Thomas Brzezinski steht etwas abseits und nippt an seinem Bier.
       Als Ortswehrleiter hat er eben noch mit Steinbrück über die Situation der
       Rottmerslebener Feuerwehr und den Stellenwert des Ehrenamts gesprochen.
       Brzezinskis Eindruck: „Er ist im Wahlkampf, er muss uns gut zureden.“ Man
       merke schon, dass dem SPD-Mann ein bisschen das Verständnis fehle, „wie es
       bei uns auf dem Land zugeht. Auch dass wir Deutsche zweiter Klasse sind,
       kann man wohl nicht von der Hand weisen.“ Er schaut freundlich aus seinem
       dunkelblauen Uniformkragen, „das werden wir dann noch bei der Rente
       merken“, sagt er. Er ist nicht bitter, er sagt nur, wie er es sieht.
       
       Eine Stunde später beginnt Peer Steinbrücks „Klartext“-Veranstaltung. Ins
       Magdeburger Kulturwerk „Fichte“ sind vierhundert Menschen gekommen, um mit
       dem Kanzlerkandidaten zu diskutieren. Die meisten von ihnen sind
       SPD-Mitglieder, Pöbeleien sind nicht zu befürchten. Wie Steinbrück da steht
       – ebenerdig, im Scheinwerferlicht, umzingelt von den Zuhörern –, da spürt
       man: Jetzt ist er in seinem Element. Frage, Antwort, Frage, Antwort. Fakten
       abspulen, Witzchen reißen, streicheln und widersprechen. Glänzen. Am Ende
       dieses langen Tages wirkt der 66 Jahre alte Politiker wie neu.
       
       ## So müsste es immer sein
       
       Anderthalb Stunden prasseln die Fragen auf ihn ein. Blindengeld, Eurokrise,
       Mieten. Steuerflucht, Syrienkonflikt, energetische Gebäudesanierung. Die
       Genossen sind nicht schüchtern. Auf jede Frage antwortet Steinbrück, ohne
       ins Referieren zu verfallen. Auf und ab geht er in dieser Arena, den Kiefer
       vorgeschoben, den Nacken steif, die Linke in der Hosentasche. Er schnappt
       nach Wahlkampfhappen, weist, wo immer es sich anbietet, auf das
       SPD-Regierungsprogramm hin. Sagt einer Lehrerin, die sich über das
       Kooperationsverbot in der Bildung mokiert, der Bund müsse hier „stärker
       koordinieren“. Widerspricht einem Landwirt, der „zu viel Grün“ in der
       Agrarpolitik befürchtet. Und die Frage, wann das letzte Ministerium von
       Bonn nach Berlin umzieht, beantwortet er „auf Politikerdeutsch: Es wird zu
       prüfen sein.“ Die Leute lachen. Ach ja, so müsste es immer sein. Der
       Kandidat unter ihm Gewogenen, Stammtischatmosphäre, und wegen der Form der
       Veranstaltung muss man nie konkret werden.
       
       Ein Mann meldet sich jetzt. Fünfzig Jahre habe er als Stahlbauschlosser
       geschuftet, sagt er in breitestem Magdeburger Dialekt. Und trotzdem habe er
       nun weniger Rente in der Tasche als die Leute in Niedersachsen, fünfzig
       Kilometer weiter. „Wann bekomme ich endlich meine Angleichung bei der
       Rente? Ich werde schließlich bald siebzig. Früher hieß es doch immer, wir
       sind Brüder und Schwestern. Wo bleibt mein Geld?“
       
       ## Er verkennt die Situation
       
       Ein emotionales Thema. Bei der Rente, beim Lohn drückt sich für die Leute
       hier mangelnde Wertschätzung aus. Arbeiten sie nicht auch Tag für Tag?
       Zahlen sie keine Steuern, keinen Soli? Also! Peer Steinbrück verkennt die
       Situation. Er verweist flugs auf das Regierungsprogramm der SPD, in dem die
       Rentenanpassung festgeschrieben sei. Sagt, dass an diesem Konzept „die
       Manuela Schwesig mitgearbeitet hat – die ist ja auch aus dem Osten.“ Das
       Ganze sei jedoch nicht mit einem Urknall zu bewerkstelligen, vielmehr werde
       das Problem über die Angleichung von Rentenpunkten geregelt. „Mit dem
       Ergebnis, dass eine solche Rentenanpassung in fünf, sechs Jahren erfolgt.“
       
       Hier ist er wieder, der Beamte, der kühle Rechner, der einstige
       Bundesfinanzminister. Ein Kandidat, der es nicht fertigbringt, etwas wie
       Zuversicht zu verbreiten. Der lieber auf die Gesetzeslage verweist, statt
       einem interessierten Wähler einen Funken Mitgefühl zu schenken. Der
       Magdeburger Stahlbauschlosser setzt sich wieder hin. Die
       „Klartext“-Veranstaltung ist sowieso zu Ende. Im allgemeinen Aufbruch sagt
       ein Mann: „Das Gleiche würde ich jetzt gern mal von Merkel hören. Wie die
       als Frau und Ossi die West-CDU-Männer plattgemacht hat – also das find ich
       schon toll.“
       
       30 May 2013
       
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