URI: 
       # taz.de -- Schleswig-Holstein: Urnengang fällt ins Wasser
       
       > Bei der Kommunalwahl gibt weniger als die Hälfte der Berechtigten ihre
       > Stimme ab. Schuld sind, aus Sicht mancher Politiker, Schule und Medien.
       
   IMG Bild: Lieber ans Meer statt ins Wahllokal: Die Wahlbeteiligung war niedrig wie nie zuvor.
       
       Für Holger Diedrich ist es „ein Erdbeben“: Bei der schleswig-holsteinischen
       Kommunalwahl am Sonntag sind die Windkraftgegner in der Gemeinde Riepsdorf
       aus dem Stand stärkste Fraktion im Gemeinderat geworden. 43,3 Prozent und
       fünf Mandate hat die Bürgernahe Unabhängige Gemeinschaftliche
       Wählergemeinschaft (BUG) errungen, die CDU kam auf 36,8 Prozent, die SPD
       auf 20,0. Damit geht der Windkonflikt von Riepsdorf in eine neue Runde. Ja,
       das Klima im Dorf nahe des Ostseebades Grömitz sei jetzt „ein wenig
       vergiftet“, sagt der neue BUG-Gemeindevertreter Holger Diedrich.
       
       Die 1.000-Seelen-Gemeinde ist gespalten wegen des Repowerings von
       Windkraftanlagen (taz berichtete). Alte Anlagen sollten nach dem Willen des
       bisherigen Gemeinderats – sechs Christdemokraten und fünf Sozialdemokraten
       – gegen neue, effektivere und höhere ausgetauscht werden. Dagegen haben die
       Kritiker, die Verschattung und Wertminderung ihrer Häuser befürchten,
       gleich doppelt erfolgreich mobilisiert: Sie mischen jetzt in der
       Lokalpolitik mit, und sie haben die Wahlbeteiligung im Ort auf den
       landesweiten Rekordwert von 67,7 Prozent getrieben.
       
       ## Niedrige Wahlbeteiligung
       
       Nicht einmal die Hälfte der wahlberechtigten Schleswig-HolsteinerInnen ist
       am Sonntag überhaupt zur Wahl gegangen. Mit 46,7 Prozent Wahlbeteiligung
       wurde ein historischer Tiefstand erreicht. Vor fünf Jahren war die
       Wahlbeteiligung mit 49,4 Prozent erstmals unter die fifty-fifty-Marke
       gefallen, vor 20 Jahren hatte sie noch bei mehr als 70 Prozent gelegen. Den
       Minusrekord verzeichnet Schleswig-Holsteins drittgrößte Stadt Flensburg mit
       35,9 Prozent.
       
       „Wir beobachten einen Rückgang des Gefühls, dass es zur Bürgerpflicht
       gehört, wählen zu gehen“, sagte der Kieler Politikwissenschaftler Christian
       Martin der Deutschen Presse-Agentur. Es sei „paradox“, dass ausgerechnet
       bei Kommunalwahlen, wo die Bürger ganz konkret über ihre Lebensbedingungen
       mitentscheiden können, die Beteiligung so niedrig ist: „Bei keiner anderen
       Wahl macht die eigene Stimme einen so großen Unterschied wie bei einer
       Kommunalwahl.“
       
       Nach Ansicht des SPD-Landesvorsitzenden Ralf Stegner ist die Wahlabstinenz
       aber auch auf das Versagen von Medien, Wirtschaft und Wissenschaft
       zurückzuführen: „Die Leute, die Vorbildfunktion haben in unserem Land, sind
       gefordert zu sagen: ’Leute geht wählen‘“, sagte Stegner. Vor allem die
       Medien würden Parteien und Politiker negativer beschreiben, als sie
       tatsächlich seien. Es gebe in der Politikberichterstattung einen Hang zur
       Dramatisierung und Boulevardisierung. Dabei seien Parteienstreit und
       Meinungswettbewerb Ausdruck von Demokratie. „Die Medien spielen eine Rolle,
       die sie besser, anders wahrnehmen müssen“, so Stegner weiter. „Und das gilt
       auch für Wirtschaft und Wissenschaft – die sogenannten Eliten, die
       teilweise sehr verächtlich auf die Politik schauen, was ich überhaupt nicht
       angemessen finde.“
       
       Nach Ansicht der parteilosen Kieler Bildungsministerin Waltraud Wende sind
       auch die Schulen gefordert, stärker die Bedeutung von Wahlen und Demokratie
       zu vermitteln – im Unterricht, aber auch als Orte von Mitbestimmung. „Das
       sind die richtigen Wege, dass man Demokratie lernt und Demokratie lebt in
       der Schule“, sagte Wende. Die Piratenpartei hat unterdessen eine Umfrage im
       Internet gestartet: Sie wollen von Nichtwählern die Gründe ihres
       Wahlverzichts erfahren.
       
       ## Dänenampel stabil
       
       Bei der Kommunalwahl am Sonntag hatten SPD und Grüne im Landesdurchschnitt
       deutlich hinzugewonnen, die CDU geringfügig. Verlierer waren die FDP und
       die Linke, die Piraten spielten kaum eine Rolle. Stärkste kommunale Kraft
       in den Kreistagen und Gemeinderäten bleibt die CDU. Die SPD legte zwar
       deutlich zu, verpasste aber klar ihr Ziel, stärkste Partei zu werden.
       
       Die seit einem Jahr im nördlichsten Bundesland regierende Koalition aus
       SPD, Grünen und Südschleswigschem Wählerverband (SSW) übertraf mit zusammen
       46,4 Prozent ihr Ergebnis bei der Kommunalwahl 2008 von 39,9 Prozent
       deutlich. Sie blieb aber unter dem Resultat der Landtagswahl 2012 von 48,2
       Prozent. Das lag vor allem an den Grünen, die mit einem Plus von 3,4
       Prozent auf landesweit 13,7 Prozent kamen. Damit liegen sie weit vor FDP,
       Linken und Piraten.
       
       In den beiden Großstädten Kiel und Lübeck sitzen nun jeweils neun Parteien
       und Gruppen in den Stadträten. Einzig in diesen beiden Parlamenten ist die
       SPD stärkste Partei geworden. In der Landeshauptstadt haben SPD und Grüne
       eine Mehrheit auch ohne den bisherigen Bündnispartner SSW, in Lübeck fehlt
       dafür eine Stimme. Dort zog die Partei des früheren Titanic-Chefredakteurs
       Martin Sonneborn mit 1,3 Prozent in die Bürgerschaft ein. Künftig verfügt
       die Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und
       basisdemokratische Initiative (PARTEI) dort über einen Sitz.
       
       ## Am rechten Rand
       
       Rechtsaußen-Parteien errangen drei kommunale Mandate. In Neumünster wird
       die NPD von Mark Proch vertreten. „1,6 Prozent genügten, dass erstmals nach
       der NSDAP-Herrschaft wieder eine Nazipartei in der Ratsversammlung
       vertreten ist“, sagt Christoph Ostheimer vom örtlichen „Bündnis gegen
       Rechts“. Zuspruch hatten Proch und den Seinen insbesondere Aktionen gegen
       vermeintliche „Kinderschänder“ verschafft.
       
       In Kiel war das NPD-Stadtratsmitglied Hermann Gutsche nicht wieder für
       seine Partei angetreten. Aber er zog erneut in den Stadtrat ein: mit 1,1
       Prozent und der Wählergemeinschaft „Wahlalternative Kieler Bürger“ (WaKB) –
       ein Zusammenschluss von NPD und Freien Nationalisten, vor dem die anderen
       Parteien gewarnt hatten.
       
       Im Kreis Herzogtum Lauenburg zieht der Noch-NPD-Kreistagsabgeordnete Kay
       Oelke als Spitzenkandidat der „Rechtsstaatlichen Liga“ wieder in den
       Kreistag ein. Auf ihrer Website hatte die schleswig-holsteinische NPD
       zunächst für die Liga geworben. Das beendete sie, nachdem Oelke erklärte,
       die NPD verlassen zu haben. Bis Montagnachmittag gab die NPD keine
       Einschätzung zu der Wahl ab. Nach der Landtagswahl hatte der Landesverband
       gehofft, auf kommunaler Ebene mehr Mandate zu erlangen – vergeblich.
       
       ## Wählen im Internet
       
       Einen Tipp gegen die Wahlmüdigkeit haben die Hamburger Grünen parat: Wählen
       im Internet. „Wenn wir weiter eine lebendige Demokratie haben wollen,
       müssen wir die Wähler dort abholen, wo sie sind“, findet der
       Grünen-Abgeordnete Farid Müller. „Online-Banking und Reisebuchungen sind im
       Internet problemlos möglich – warum nicht auch wählen?“
       
       Er hat allen Grund zur Sorge. Nach einer Wahlrechtsreform finden im Juni
       nächsten Jahres in Hamburg die Europawahlen und die Wahlen zu den sieben
       Bezirksversammlungen erstmals gemeinsam statt. Bei der Europawahl 2009 lag
       die Wahlbeteiligung bei 34,7 Prozent – dass sie nächstes Jahr ansteigt, ist
       alles andere als sicher.
       
       27 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sven-Michael Veit
   DIR Andreas Speit
   DIR Andrian Meyer
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA