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       # taz.de -- Unruhen in Schweden: Verbrannte Träume
       
       > Die Risse in der Gesellschaft werden größer. Nirgendwo ist das deutlicher
       > zu spüren als in Husby, wo vor einer Woche die Unruhen begonnen haben
       
   IMG Bild: Husby vergangene Woche - in den siebziger Jahren wurde die Siedlung als "Traumvorort" vermarktet
       
       STOCKHOLM-HUSBY taz | Aus der U-Bahn der „blauen Linie“ strömen die
       Menschen zur Rolltreppe, die hoch zur „Tunnelbana“-Station von
       Stockholm-Husby führt. Alle ordnen sich diszipliniert rechts ein. „Na ja,
       das ist wohl mit das Erste, was man in Stockholm lernt“, lacht Rami
       al-Khamisi. Er ist Sprecher von „Megafonen“. Unter dem Slogan „Ein
       vereinter Vorort ist unbesiegbar“ hat es sich die vor fünf Jahren
       gegründete Organisation zur Aufgabe gemacht, in Husby und anderen
       Stockholmer Vororten für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus zu
       kämpfen.
       
       „Lass uns gleich die Frage abhaken, ob wir die Brände verurteilen“, sagt
       der 25-Jährige: „Klar. Nichts ist einfacher, natürlich sind die falsch.“
       Aber weder verteidige noch verdamme er diese Jugendlichen. Entscheidend
       ist, zu verstehen, um was es eigentlich geht. „Die strukturellen Probleme,
       die soziale Abrüstung.“
       
       Fast eine Woche lang haben in Stockholms Vororten Autos und Müllcontainer
       gebrannt, wurden Schulen und Polizeistationen angezündet und Steine auf
       Polizisten geworfen. Pfingsten hatten die Unruhen hier in Husby begonnen
       und sich erst auf andere Vororte der Hauptstadt und dann auf einige weitere
       Städte ausgebreitet.
       
       „Man kann es mit einem Satz sagen“, meint Khamisi: „Wir fühlen uns
       ausgeschlossen von der schwedischen Gesellschaft. Nicht nur geografisch.“
       15 Kilometer nordwestlich der Stockholmer City liegt Husby mit seinen
       gelben, weißen und grauen Plattenbauten. Dass es nicht die begehrteste
       Adresse ist, zeigt die Fluktuation der BewohnerInnen. Jeder Fünfte zieht
       jedes Jahr von hier fort. „Wohnst du an einem Platz wie Husby“, sagt der
       Megafonen-Sprecher, „bist du von vornherein stigmatisiert.“
       
       ## Eine geteilte Stadt
       
       Als „Weltklassestadt“ bewirbt „The capital of Scandinavia“ sich gern
       selbst. Doch Schwedens 1,5-Millionen-Metropole Stockholm ist eine geteilte
       Stadt. Eine wohlhabende Innenstadt und reiche Villenviertel sind umgeben
       von einem Ring aus Vororten, wo die Menschen zu einem großen Teil unter
       angespannten Verhältnissen leben.
       
       In Husby, in dem die Bevölkerung zu 80 Prozent aus Einwanderern besteht,
       liegt die offene Arbeitslosigkeit bei fast 9, im „Schweden-Stadtteil“
       Norrmalm bei 2 Prozent. Das jährliche Durchschnittseinkommen ist mit
       umgerechnet 44.000 Euro doppelt so hoch wie in Husby. Nur 3 Prozent der
       SchülerInnen verfehlen in Norrmalm das Gymnasium, in Husby sind es zehnmal
       so viel.
       
       Gegen diese Segregation werde nicht genug getan, die Politik habe sie in
       den letzten Jahren sogar noch weiter zementiert, klagte Megafonen schon vor
       einem Jahr. „Die sozialen und mentalen Gräben, die unsere Stadt teilen,
       werden immer weiter vertieft.“ Es habe eine systematische Umverteilung der
       Ressourcen stattgefunden. Während in der City mit immer neuen Projekten
       geprotzt werde, regiere in den Außenbezirken der Rotstift.
       Serviceeinrichtungen und Ämter würden geschlossen, Schulen vernachlässigt.
       „Unsere Heimat ist nur noch eine Schlafstadt.“
       
       ## „Menschen als Versuchskaninchen“
       
       Neu ist das nicht. Auf dem „Järvafeld“, einem ehemaligen
       Truppenübungsplatz, waren Kista, Husby und Akalla zu Beginn der siebziger
       Jahre isoliert voneinander hingekleckert und als „Traumvororte“ vermarktet
       worden – als Teil des Millionenprogramms zur Behebung der Wohnungsnot.
       Binnen zehn Jahren wurde eine Million neuer Wohnungen aus dem Boden
       gestampft. Von vornherein als Wohnstadt konzipiert, wuchs Husby in drei
       Jahren von 83 auf knapp 15.000 EinwohnerInnen. Soziologen warnten damals
       vor einem „riskanten Wohnexperiment“, sprachen von „Menschen als
       Versuchskaninchen“.
       
       2007 schickte die französische Regierung eine Delegation mit Exminister
       Dominique Perben an der Spitze nach Husby. Er sollte sich für ein Programm
       zur Entwicklung französischer Vororte inspirieren lassen und erkunden,
       warum es in Husby und Umgebung trotz ähnlicher Voraussetzungen wie in den
       Pariser Banlieues keine Unruhen gab.
       
       „Die Ursachen haben sich über Jahre aufgetürmt“, sagt Khamisi. „Guck nur,
       wie es hier jeden Tag abläuft. 16-Jährige sind es mittlerweile gewohnt,
       beim Weg zum Fußballtraining von einer Polizeistreife angehalten und nach
       Drogen durchsucht zu werden.“ Es gebe eine regelrechte Militarisierung der
       Vororte. „Und all die Jugendlichen, die keinen Schulabschluss schaffen, die
       keinen Job kriegen, die wachsenden Klassenschranken. Ganz viele Junge haben
       das Gefühl, dass Vororte wie Husby für sie so etwas wie die Endstation
       sind.“
       
       ## Plötzlich kommen Politiker
       
       Man habe friedlich demonstriert, Versammlungen abgehalten, Politiker
       eingeladen, in Zeitungen geschrieben – doch eigentlich habe sich keiner
       interessiert. Das habe sich erst geändert, als Autos angezündet und Steine
       geworfen wurden. Plötzlich seien Medien und Politiker gekommen.
       
       „Zerstörtes Eigentum! Brennende Autos! Steine! So schreiben die Medien“,
       heißt es in einem von Megafonen verbreiteten Text: „Aber wer spricht von
       zerstörter Kindheit, verbrannten Träumen und einer Politik mit einem Herz
       aus Stein?“
       
       Der Tod eines 69-jährigen Rentners am 13. Mai durch Polizeikugeln sei in
       Husby nur „der sprichwörtliche letzte Tropfen“ gewesen, sagt Khamisi – so
       ähnlich wie es das Erschießen des Mark Duggan in London 2011 oder in
       Clichy-sous-Bois der Tod von Bouna Traoré und Zyed Benna 2005 in Frankreich
       war.
       
       Nach offiziellen Angaben habe die Polizei den Rentner aus Notwehr
       erschossen, Anwohner vermuten einen rassistischen Hintergrund. Danach
       gingen in Husby Fahrzeuge in Flammen auf, Jugendliche bewarfen Polizei und
       Feuerwehr mit Steinen.
       
       ## Stunk wirkt
       
       Als es vor einigen Jahren in Stockholms Rinkeby und Malmös Rosengård Unruhe
       gab, habe man von der Stadt ein Jugendzentrum bekommen, erzählt Jennifer
       Hillbom, Freizeitleiterin und Megafonen-Mitglied: „Danach war alles schnell
       wieder vergessen. Die Jugendlichen haben gelernt, dass Stunk machen
       offenbar die einzig wirksame Methode ist, wenn man etwas bekommen will.“
       
       Auch sie kritisiert die Polizei. „Ich bin weiß und selbst von Beamten als
       ,Ratte' beschimpft worden. Viele berichten von Beleidigungen wie ,Affe' und
       ,Neger'. Da ist immer von Dialogbereitschaft die Rede, aber wo soll die
       sein, wenn sie gleich mit Schilden, Schlagstöcken und Hunden anrücken?“ Das
       Verhalten der Polizei sei der Auslöser gewesen. „Sie sind brutal und
       betrachten uns im Zweifel erst mal als Kriminelle“, sagt Hillbom.
       
       Seine Jugend sei wie „das Leben in einem Polizeistaat“ gewesen, schildert
       der 24-jährige Hiphop-Künstler Kim Ring am Freitag in Dagens Nyheter sein
       Leben in Husby und zwei anderen Stockholmer Vororten: „Ich wurde von der
       Polizei misshandelt, als Neger beschimpft und habe selbst Steine wurfbereit
       in der Hand gehabt. Anscheinend fällt es vielen Leuten schwer, zu
       akzeptieren, dass es uns gibt“.
       
       Von der Notwendigkeit, die Vorwürfe gegen die Polizei wegen Brutalität und
       Rassismus ernst zu nehmen und gründlich zu untersuchen, sprach mittlerweile
       auch Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt. Er lehnt es dennoch ab, sich vor
       Ort zu informieren, und will auch keinen Zusammenhang zwischen der Politik
       seiner konservativ-liberalen Regierung und den Unruhen sehen.
       
       ## Das Versagen der Politik
       
       Reinfeldt sieht „Einzelne“ am Werk, „die mit Gewalt die Gesellschaft
       verändern wollen“. Da ist selbst Jens Spendrup, der Vorsitzende des
       Arbeitgeberverbandes, weiter, der das Versagen der Beschäftigungspolitik
       als „fast einzige Erklärung“ der brennenden Autos benennt.
       
       Wenn in Schweden bisher nur einzelne Autos, aber nicht die Vororte brennen,
       ist das auch Selbsthilfeorganisationen wie Megafonen in Stockholm oder
       Pantrarna in Göteborg zu verdanken. Dort, wo die traditionellen Kanäle
       versagt haben, sind sie zum Sprachrohr für die Unzufriedenheit geworden.
       Wie andere Gruppen und Organisationen zeigten sie die in den letzten
       Nächten auf den Straßen Präsenz und forderten ein Ende von
       Polizeibrutalität und Gewalttaten.
       
       Die Nächte am Wochenende waren in Stockholm trotz einzelner Brände die
       ruhigsten seit Tagen. Freitagnacht hatten noch herumziehende Neonazis
       versucht zu provozieren. In der Nacht zum Sonntag brannte in Husby nur noch
       Grillkohle. Auf dem Marktplatz war Fest. Und viele drückten es so ähnlich
       wie Esmat aus, die vor 19 Jahren in Husby geboren wurde: „Gewalt ist Mist.
       Die Aggression und den Frust, der dahintersteckt, verstehe ich aber.“ In
       Husby sei dennoch nicht alles nachtschwarz. „Doch ob sich etwas bessert,
       liegt an uns selbst“, sagt Esmat. Man spüre jetzt richtig so etwas wie neue
       Gemeinschaft. „Aber es muss sich auch etwas ändern.“
       
       26 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reinhard Wolff
       
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