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       # taz.de -- Verhältnis von Türkei und Syrien: Warum Erdogan leiser wird
       
       > Er stellte sich gegen Assad und sagte dessen Sturz voraus. Doch für
       > diesen Kurs findet der türkische Premier in der eigenen Bevölkerung kaum
       > Unterstützung.
       
   IMG Bild: Mit seiner Syrienpolitik wird der türkische Premier Tayyip Erdogan immer einsamer
       
       ISTANBUL taz | „Wenn man mit Abdullah Öcalan reden kann, kann man auch mit
       Assad reden.“ Noch ist diese Position des früheren türkischen
       Außenministers Yasar Yakis in der Regierungspartei AKP eine Einzelmeinung,
       aber es mehren sich die Hinweise, dass Ministerpräsident Recep Tayyip
       Erdogan seine bisherige Syrienpolitik revidieren muss.
       
       Eine Woche nach Erdogans Besuch in Washington und zwei Wochen nach dem
       verheerenden Anschlag in der Grenzstadt Reyhanli gerät Erdogan wegen seiner
       fast schon persönlich geführten Fehde mit dem syrischen Diktator Baschir
       al-Assad immer mehr unter Druck.
       
       Als der türkische Präsident Abdullah Gül in der letzten Woche in Vertretung
       der Regierung zu einem Kondolenzbesuch nach Reyhanli kam, erlebte er eine
       unliebsame Überraschung. Kaum einer der Bewohner wollte den Präsidenten
       treffen. Die Straßen blieben leer, Gül wurde boykottiert, berichteten
       türkische Journalisten, die den Präsidenten begleiteten.
       
       Schon zuvor hatten Bewohner von Reyhanli gegen die Regierung protestiert.
       Auch in anderen Orten entlang der syrischen Grenze kam es in den letzten
       Tagen zu Demonstrationen gegen Erdogan. „Die Leute haben Angst, dass die
       Regierung sie in den Bürgerkrieg in Syrien hineinzieht“, sagt Serkan
       Demirtas, Kommentator der Zeitung Hürriyet. „Wird die Regierung ihre
       Lektion aus dem Attentat in Reyhanli lernen?“ Es gibt tatsächlich Indizien,
       dass Erdogan aus dem Misserfolg seiner bisherigen Syrienpolitik bald
       Konsequenzen ziehen wird.
       
       ## Realität widerlegt Erdogans Ankündigungen
       
       Nach den letzten Umfragen unterstützen nur noch 31 Prozent der türkischen
       Bevölkerung seinen strikten Anti-Assad Kurs. 11 Prozent wollen eine aktive,
       womöglich militärische Unterstützung der syrischen Opposition. Erdogans
       großsprecherische Ankündigungen, die von ihm unterstützte Opposition werde
       Assad in wenigen Wochen aus Damaskus vertreiben, wird von der Realität
       Monat um Monat widerlegt.
       
       Auch außenpolitisch sieht sich Erdogan allein auf weiter Flur. Zwar wurde
       er in Washington mit großem Pomp empfangen und bekam fast sechs Stunden
       Zeit, dem US-Präsidenten seine Sicht der nahöstlichen Konfliktlage
       nahezubringen. Doch am Ende war Obama von einer Flugverbotszone in Syrien
       so wenig überzeugt wie zuvor.
       
       Stattdessen setzen die USA auf Diplomatie, und Erdogan muss mitziehen. Hieß
       es vor der USA-Reise im Außenministerium in Ankara noch, die von den USA
       und Russland vorgeschlagene Syrienkonferenz in Genf sei nur sinnvoll, wenn
       es um ein klares Mandat für eine Übergangsregierung ohne Assad geht, ist
       die türkische Regierung jetzt selbst dann bereit, in Genf teilzunehmen,
       wenn auch Assads Freunde aus Teheran mit am Tisch sitzen.
       
       Während der Außenminister Davutoglu darauf beharrt, Assad müsse vor Beginn
       der Genfer Konferenz seine Macht abgeben, werden innerhalb von Erdogans AKP
       erste Stimmen laut, die sich sogar vorstellen können, dass Assad selbst
       teilnimmt. Yasar Yakis, Außenminister in der ersten AKP-Regierung 2003,
       sagte zu der Zeitung Todays Zaman: „Wir reden zur Lösung der kurdischen
       Frage mit dem Chef einer Terrororganisation, was spricht dagegen, auch mit
       Assad zu reden? Vielleicht können die Russen ihn überzeugen, bei den
       nächsten Präsidentschaftswahlen nicht anzutreten.“
       
       ## Keine Führungsrolle im Nahen Osten
       
       Erdogan, dessen Erfolge nicht zuletzt darauf beruhen, dass er immer ein Ohr
       ganz nah an der Stimmung der Wähler hat, ist nach Meinung einiger
       AKP-Beobachter gerade dabei zu realisieren, dass sein Traum von einer neuen
       Führerschaft im Nahen Osten den viel realistischeren Traum einer
       Präsidentschaft in der Türkei gefährden könnte, die er nächstes Jahr
       antreten will.
       
       Zunächst versuchte der Ministerpräsident noch, die Schuld an der syrischen
       Misere der Presse zuzuschieben. Auf dem Rückflug aus Washington
       beschuldigte er die ihn begleitenden Chefredakteure, die Medien würden zu
       kritisch über seine Syrienpolitik berichten. Nach dem Attentat in Reyhanli
       wurde gar eine komplette Nachrichtensperre verhängt, damit die Regierung
       ihre Version der Urheberschaft des Attentats möglichst unhinterfragt unter
       die Leute bringen konnte. Doch es nutzt nichts. Kaum jemand glaubt, dass
       türkische Linksradikale im Auftrag von Assad die Bomben legten.
       
       Doch um gegenüber Syrien glaubhaft umsteuern zu können und seine Fehde mit
       Assad zu beenden, braucht Erdogan einen Sündenbock, dem die Verantwortung
       für die Fehler der Vergangenheit aufgebürdet werden können. Nach Lage der
       Dinge kommt dafür nur Außenminister Ahmed Davutoglu infrage. Der Architekt
       der neoosmanischen Außenpolitik Erdogans wird von der Opposition schon
       lange verspottet, aus seiner Politik der „Null-Probleme“ mit den Nachbarn
       sei eine Situation des Dauerstreits geworden.
       
       „Der schlechteste Außenminister, den die Republik je hatte“, höhnte
       Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu. Die Gerüchteküche in Ankara will
       bereits einen Nachfolger für Davutoglu kennen: Hakan Fidan, Chef des
       Geheimdienstes MIT, der den bislang erfolgreichen Rückzug der PKK mit
       PKK-Chef Abdullah Öcalan persönlich ausgehandelt hat.
       
       24 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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