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       # taz.de -- Großkreis XXL: Die Spur der Kraniche
       
       > Der Müritz-Nationalpark ist das Juwel der ganzen Region. Parkverwaltung
       > und Anrainer sagen: Den Großkreis finden wir gut.
       
   IMG Bild: Im Müritz-Nationalpark gibt es einen Buchenbestand, der Unesco-Weltnaturerbe ist.
       
       RECHLIN/HOHENZIERITZ taz | Erdgeschichtlich betrachtet ist die letzte
       Eiszeit noch nicht lange her. Knapp 12.000 Jahre. Die Gletscher
       hinterließen Geröllmassen und Gesteinsaufschüttungen, die bis heute das
       Aussehen der Mecklenburgischen Seenplatte prägen. Saftige Wiesen überziehen
       die hügelige Landschaft, die Bäume zeigen ein helles, fast noch gelbes
       Grün. Die Wiesen sind gelb gesprenkelt, der Weißdorn blüht und auf den
       Feldern zeigt der Raps zartgelbe Blüten.
       
       „Die Waldkante ist meist die Grenze“, erklärt Ralf Werner, „dort fängt der
       Nationalpark an.“ Werner, ein drahtiger Mittfünziger mit weißem Bart, ist
       ein Ranger, so heißen die Mitarbeiter des Nationalparks seit ein paar
       Jahren nach US-amerikanischem Vorbild. Der Müritz-Nationalpark besteht aus
       zwei Teilen, dem Gebiet Müritz, dem größten See Deutschlands, und dem
       Gebiet Serrahn mit einem Stück Buchenurwald, das seit 2011 zum
       Unesco-Weltnaturerbe gehört. Der Nationalpark untersteht dem Land
       Mecklenburg-Vorpommern, nicht dem Kreis. Und so ist dieses Stück Natur
       verwaltungstechnisch ein Fremdkörper im Landkreis, zugleich aber sein
       Aushängeschild.
       
       Vertragen sich Nationalpark und Besucher überhaupt? Widerstrebt nicht die
       Idee der sich selbst überlassenen Natur dem Tourismus-Konzept? „Das ist ein
       dünner Grat“, gibt der Ranger zu.
       
       Mensch und Natur müssen sich arrangieren, Kommunen und Nationalparkamt
       auch. Im Nationalpark sind die Ranger Hüter des Waldes und des Gesetzes.
       Auf dem Ärmel ihres Hemdes prangt das grüne Nationalpark-Abzeichen. Ralf
       Werner und seine rund 40 Kollegen zählen Kraniche, registrieren den
       Wildverbiss, bauen Fischtreppen, orten akustisch die männliche Rohrdommel,
       beobachten Fischotter, führen Besucher durch den Wald, machen
       Gebietskontrollen. Manchmal stellen sie auch Strafzettel aus. Aber lieber
       spricht Ralf Werner erst einmal mit den Störenfrieden im Wald – den
       Pilzsammlern, Picknickfreaks, Wildzeltern, Anglern, Falschparkern.
       „Gespräch geht immer vor Knöllchen.“
       
       ## Die Feinde des Parks
       
       „Der Bürger ist ja der Feind des Nationalparks“, sagt Toralf Schnur, der
       für die FDP im Kreistag sitzt, halb spöttisch, halb ernst. „Sie glauben gar
       nicht, wie viele Knöllchen ich schon gesammelt habe.“ Schnur lacht dröhnend
       am Telefon. „Da haben wir so ’ne tolle Natur“, der sich die Besucher jedoch
       nur auf ausgewiesenen Wegen nähern dürften. „Durchfahren können Sie mit dem
       Auto schon“, sagt Schnur, „aber anhalten dürfen Sie nicht mehr.“ Und in
       Zukunft dürfen auch nicht mehr alle durchfahren. Da steht die Schranke vor.
       
       Bei Kanu-Hecht ist am Morgen wenig los. Zwar scheint die Sonne, aber die
       Saison startet spät, und dieses Jahr war der Winter besonders lang. Die
       Hechts sind Nationalpark-Partner: Sie bieten Führungen an, geben
       Verhaltenstipps, dafür liegen ihre Werbeflyer an den Infostellen des
       Nationalparks aus. Mit Ranger Ralf Werner entspinnt sich eine Diskussion
       über die Schranken, die nun an den wenigen Straßen quer durch das
       Nationalparkgebiet errichtet werden sollen, zu öffnen per Chipkarte. Und
       die können nur Bewohner der Anliegergemeinden erwerben.
       
       „Ich find’s gut“, sagt Sohn Mirko, der in Boek die Surfbasis betreibt. „Der
       Nationalpark ist eine Bereicherung für uns alle.“ Und wer hat sonst noch
       Anrecht auf eine Chipkarte? Forstarbeiter? Servicekräfte? Und wer
       kontrolliert? Die Lkws, die weiterhin die Straßen befahren, stören die
       Kioskbetreiberin. „Damit ist 2018 ohnehin Schluss“, entgegnet Ralf Werner.
       Dann sei es mit Landwirtschaft und Holzschlag vorbei.
       
       Noch sind zwei Drittel des Parks als Entwicklungszonen gekennzeichnet; hier
       findet Landwirtschaft statt, werden Bäume gefällt und verarbeitet. Mit dem
       Auto geht es über eine Piste tief in den Nationalpark hinein. Richtung
       Zartwitzer Kreuz, wo mitten im Wald eine Haltestelle des Nationalparkbusses
       auftaucht. Anfangs stehen die Kiefern noch sehr dicht, schlank und
       kerzengerade. „Die wurden extra so gesetzt“, erklärt der Ranger. Nutzwald,
       „damit man möglichst viele und gerade Bäume zum Fällen bekam. Da passte
       nichts zwischen.“ In einer Übergangszeit soll nun der dominierende
       Kiefernwald gelichtet werden. „Damit der Mischwald eine Chance hat.“
       
       ## "Totholz ist das falsche Wort"
       
       Der Übergang zur Wildnis wird sorgfältig geplant. Nach einigen Kilometern
       wird der Abstand zwischen den Bäumen größer, wachsen junge Büsche und Bäume
       zwischen den haushohen Kiefern. In diesen Kernzonen ist die Natur
       naturbelassen, dazu gehört auch Totholz, entwurzelte oder tote Bäume, die
       niemand aus dem Weg räumt.
       
       „Totholz ist das falsche Wort“, sagt Ralf Werner. „Es gibt nichts
       Lebendigeres.“ In dem abgestorbenen Geäst siedeln sich Pilze und Insekten
       an, die wiederum die Vögel anlocken, der natürliche Kreislauf des Waldes
       wird in Gang gesetzt. Um die 900 Pflanzen-, 250 Vogel- und 53
       Säugetierarten gibt es inzwischen im Nationalpark.
       
       „Kraniche ohne Ende“, schwärmt Werner, deren Flug man im Herbst beobachten
       kann, seltene See- und Fischadler, die hier ihr Revier haben, Vögel mit
       einer Spannweite bis zu 2,50 Meter. In Federow kann man den brütenden
       Fischadler dank Videoübertragung beobachten. Auch Wölfe wurden hier und da
       bereits gesichtet, „Durchwanderer“, sagt Werner, ein festes Rudel gebe es
       noch nicht.
       
       Ralf Werner war von Anfang an dabei. Der gelernte Elektriker gehörte zu
       einer Gruppe von Leuten, die sich in der Wende für einen Nationalpark
       starkmachten. Dazu zählt auch der heutige Amtsleiter Ulrich Meßner. Der
       Coup glückte, der Nationalpark wurde im Einigungsvertrag festgeschrieben.
       Werner gelang 1990 der „Quereinstieg“, ehrenamtlich hatte er schon zu
       DDR-Zeiten dem Förster geholfen.
       
       ## Willi Stophs Revier
       
       Dass der Müritz-Nationalpark heute relativ unumstritten ist, hat viel mit
       der besonderen Geschichte der Region zu tun. „Schon vorher durfte ja außer
       uns Einheimischen keiner rein“, erklärt Mirko Hecht. Denn zum einen hat
       hier „die russische Armee ihre Spielchen getrieben“, und zum anderen war es
       „Stoph sein Jagdgebiet“.
       
       Die Sowjets hatte große Teile der Seenplatte zum Sperrgebiet erklärt – und
       auch ein Besuch im Forst des DDR-Ministerpräsidenten verbot sich normalen
       Besuchern. Weshalb sie in der Wendezeit auch, erinnert sich Werner, ein
       Forum gründeten, das den Staatsforst zum Nationalpark umwandeln sollte –
       Zutritt erlaubt für jeden, der sich an die Regeln hält.
       
       Die Sache mit dem Nationalpark ist gut gelaufen, sagt auch Olaf Bauer,
       Bürgermeister der Anliegergemeinde Rechlin, weil es gleich nach der Wende
       geschehen sei. „Da gab es keine persönlichen Besitzansprüche“, schon die
       Nazis hätten in den dreißiger Jahren Enteignungen vorgenommen. Dies erklärt
       auch den Unterschied zum Schwarzwald, wo derzeit die Einheimischen gegen
       einen neuen Nationalpark auf die Barrikaden gehen.
       
       ## Glücklich über den Großkreis
       
       Olaf Bauer empfängt im „Haus des Gastes“. Der CDU-Mann, der gleich nach der
       Wende als Bundeswehroffizier nach Rechlin kam, hat große Pläne, obwohl sein
       Ort mit Erblasten kämpft: Die Werft ist geschlossen, die Bundeswehr gibt
       ihren Standort auf, und der sowjetische Schießplatz hinterließ Munition und
       Metalle im Boden, und wo die Panzer rollten, machten sie buchstäblich alles
       platt. „Heute sieht man nicht mehr viel davon“, sagt Bauer, „weil es sich
       die Natur zurückerobert hat“.
       
       Rechlin setzt auf Tourismus. „Der Nationalpark ist unsere Hauptattraktion“,
       sagt Bauer. Er betrachtet den Schlagbaum „als eindeutige Aufwertung“.
       Dennoch ist das mit den Durchgangsrechten eine heikle Sache. „Am Anfang
       waren wir etwas blauäugig“, erinnert sich Bauer. „Wir hätten auf den Wegen
       bestehen sollen.“ Erst jetzt, mithilfe des Landrats, sei es der Gemeinde
       gelungen, dass ein Wanderweg von Rechlin an der Müritz entlang bis nach
       Boek im Nationalpark führt. „Ich bin sehr glücklich über den neuen großen
       Kreis“, sagt Olaf Bauer.
       
       Noch einer sieht die Kreisgebietsreform positiv, Ulrich Meßner, Leiter des
       Nationalparkamts, das in Hohenzieritz residiert. „Ich habe jetzt nur noch
       eine Kreisverwaltung als Ansprechpartner“, sagt Meßner. Drei
       Naturschutzbehörden wurden zusammengelegt und auch Wasser-, Jagd- und
       Baubehörde liegen beim Kreis. „Da hat sich erst mal vieles vereinfacht.“
       
       Die Zuständigkeiten sind verzahnt. Wenn das Nationalparkamt seiner Aufgabe
       nachkommen will, die Moore oder Seen zu renaturieren, erklärt Messner,
       „brauchen wir eine wasserrechtliche Genehmigung.“ Im Kuratorium des
       Nationalparks koordinieren Vertreter der Anliegerkommunen, des Landkreises
       und des Nationalparkamts die Interessen.
       
       ## Jäger im Glaubenskrieg
       
       Nur vor Kurzem hat es einmal geknallt. Es ging um die Jagd, auf die man
       auch im Nationalpark noch nicht verzichten kann, um das Wild zu reduzieren,
       das den jungen Bäumen und Büschen schadet. Die Vertreter des ökologischen
       Jagens sind für weniger, dafür aber intensive Jagd, die traditionellen
       Jäger wollen häufiger und länger auf die Pirsch gehen. Es gab Hetzartikel,
       Rücktritte. „Ein Glaubenskrieg“, sagt Meßner, „der Nationalpark gab nur
       eine schöne Kulisse ab.“
       
       Tief im Wald steht eine Plattform am Wegesrand. Sie bietet einen
       bezaubernden Ausblick auf das Wasser, das an dieser Stelle nicht befahren
       werden darf, Fischaufzuchtsgebiet. Hoch oben kreisen vier Vögel, eine
       Fischadlerfamilie. Sie kommt jedes Jahr zurück. 21 Brutpaare hat der
       Nationalpark inzwischen.
       
       2 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Seifert
       
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